Proteste zwei Jahre nach Zugunglück: „So kann es in Griechenland nicht weitergehen“
Zwei Jahre nach dem Zugunglück bei Tempi fordern Tausende weltweit eine Aufarbeitung des Falls. Sie werfen der Regierung Mitsotakis Vertuschung vor.
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Die Menschen erinnern an weltweit 384 Orten an das Zugunglück vor zwei Jahren. Am 28. Februar 2023 um 23.21 Uhr und 19 Sekunden stößt auf Hellas' mit Abstand wichtigster Zugstrecke von Athen nach Thessaloniki im Tempital nahe dem Berg Olymp der Intercity 62 in voller Fahrt mit einem Güterzug frontal zusammen. Sofort bricht ein Feuer aus, ein Feuerball steigt mehr als einhundert Meter in den Himmel. Die vorderen Waggons des IC 62 verschmelzen auf einen Schlag zu einer unförmigen Masse. 57 Menschen, darunter viele Studierende, sterben einen grausamen, brutalen Tod.
Zwei Jahre danach schlägt das Herz des Massenprotests in Athen. Die meisten Geschäfte im Touristenviertel Plaka sind geschlossen, die Gewerkschaften haben zu einem 24-stündigen Generalstreik aufgerufen.
Johanna, 64, blaue Jacke, buntes Halstuch, trifft sich um halb elf mit Freunden am schon jetzt vollen Monastiraki-Platz in der Athener Innenstadt, um sich wie alle anderen hier zum Verfassungsplatz zu begeben. „Ich hatte von Beginn an den Verdacht, dass die Regierung nur eines tut, um die wahren Umstände im Fall Tempi zu verbergen: vertuschen und verschleiern. Jetzt wird vielen Griechen klar, was sie anfangs nicht wahrhaben wollten: Wir leben im Kolumbien Europas“, sagt die pensionierte Lehrerin zur taz.
Mehrere tausend Polizeikräfte im Einsatz
Christos, 38, Privatangestellter, Dreitagebart, Jeans, weiße Sportschuhe, steht schon vor dem Athener Parlament. Ein Polizeihubschrauber zieht am Himmel seine Kreise, der Mobilfunk ist von der Polizei ausgeschaltet, Drohnenflüge sind verboten, 6.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz. „Heute darf keiner fehlen. Ich will, dass sich in Griechenland etwas verändert. So kann es nicht weitergehen“, sagt er zur taz. Illusionen mache er sich keine, wie er hinzufügt. „Zuversichtlich bin ich nicht.“
Der vielfach tödliche Frontalcrash im Tempital brachte geradezu ungeheuerliche Sicherheitslücken im griechischen Zugverkehr zum Vorschein. Ohne ein elektronisches Leit- und Überwachungssystem und funktionierende Ampeln erfolgte die Steuerung nur manuell und per Funk. Und dies, obgleich der IC ein Tempo von bis zu 200 Kilometer pro Stunde erreicht.
Was für das Gros der Griechen jedoch noch schwerer wiegt, ist das mutmaßliche Verwischen der Spuren sowie die Vertuschung im großen Stil unmittelbar nach dem 28. Februar 2023 unter der Ägide der Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis.
Dass am 4. März 2023, nur vier Tage nach dem Frontalcrash, der Unfallort per Verfügung unrechtmäßig verändert wurde, indem zunächst die Waggons der beiden Züge entfernt, das Gelände geräumt, die Erde ausgehoben und mit Lastwagen auf ein Privatgrundstück gebracht sowie der Unfallort zubetoniert wurde, verstärkt nicht nur die Kritik der Opposition. Sie hat bei den Angehörigen der Opfer pures Entsetzen ausgelöst.
Angehörige werfen Regierung Vertuschung vor
Sie sahen sich dazu veranlasst, Experten zu beauftragen, die zur Aufklärung im Fall Tempi beitragen sollen. Mühsam konnten sie hochexplosive Chemikalien am Unfallort feststellen, die offenbar illegal im Güterzug transportiert wurden. Dies könnte eine Erklärung für den Tod jener IC-Passagiere sein, die nicht direkt durch den Frontalcrash, sondern erst Minuten später durch dubiose Explosionen bei Lufttemperaturen von bis zu 1.400 Grad Celsius pulverisiert wurden.
Der Vorwurf der Angehörigen: auf Anweisung der Regierung Mitsotakis seien an der Unglücksstelle wertvolle Beweise mutmaßlich zerstört worden. Mitsotakis vertusche und verschleiere in dem Fall Tempi. Die Strafjustiz werde von ihm kontrolliert, regierungsfreundliche Medien betrieben pure Propaganda statt Missstände aufzudecken. Fest steht: Das Thema Rechtsstaat und Demokratie ist mittlerweile zum zweitwichtigsten Thema für die Griechen geworden, wie eine jüngste Umfrage des Athener Meinungsforschungsinstituts Prorata ergab.
Der Fülle von Ungereimtheiten, Fehlern sowie Versäumnissen zum Trotz: Mitsotakis und Co. waschen ihre Hände in Unschuld. Die Umfragewerte für die seit dem 8. Juli 2019 alleine in Athen regierenden Nea Dimokratia (ND) befinden sich im freien Fall. Sie haben sich in Relation zu ihrem jüngsten Wahlergebnis unterdessen fast halbiert – maßgeblich wegen ihres Umgehens mit dem Thema Tempi.
Premier reist in die USA
Im Vorfeld der Tempi-Proteste reiste Premier Mitsotakis jedenfalls für drei Tage in die USA, „aus privaten Gründen“ wie es dazu offiziell hieß. Dennoch tat er das mit dem Regierungsflieger.
Am Donnerstag, am Vorabend der Tempi-Kundgebungen, traf Mitsotakis dann in Abu Dhabi den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Mohamed bin Zayed al Nahyan. „Wir haben die Tiefe der strategischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestätigt“, erklärte er nach dem Treffen mit dem Scheich. Die Tempi-Proteste ließen ihn kalt.
Um Schlag 12.58 Uhr Ortszeit fliegen am Freitag die ersten Molotow-Cocktails in Richtung der Ordnungskräfte vor dem Athener Parlament. Die gewaltige Kundgebung löst sich notgedrungen auf. Damit passiert abermals merkwürdigerweise genau das, was in Athen stets bei Massenprotesten zum gleichen Zeitpunkt an gleicher Stelle von Krawallmachern passiert, um so die sofort einsetzende massive Polizeigewalt mit übermäßigen Tränengaseinsatz zu rechtfertigen und die Versammlungen vorzeitig aufzulösen.
„Das war's für Mitsotakis. Er wollte den friedlichen Protest nicht zulassen“, kommentiert ein Augenzeuge. Angehörige der Tempi-Opfer gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen reicht nicht mehr der Rücktritt der Regierung. Sie wollen, dass sich Premier Mitsotakis wegen Amtsanmaßung, Amtsmissbrauchs und Anstiftung zur Amtspflichtverletzung vor Gericht zu verantworten hat.
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