Proteste nach Wahl im Iran: Warum ein Blutbad möglich ist
Der iranische Wächterrat will die umstrittenen Wahlergebnisse in Teilen überprüfen. Dass dabei Manipulationen öffentlich gemacht werden, ist aber unwahrscheinlich.
Islamische Republik: Nach der Revolution 1979 stimmten die Iraner mit großer Mehrheit für die Errichtung einer islamischen Republik. Später nahmen sie eine Verfassung an, die demokratische Elemente mit einer Herrschaft ungewählter Religionsgelehrter verbindet. Entsprechend ist der Präsident komplett dem Obersten Führer - einer Art geistlichem Oberhaupt - untergeordnet, das Parlament wird von den zwölf ernannten Mitgliedern des Wächterrates kontrolliert.
Präsident: Theoretisch ist der Präsident nur dem Obersten Führer untergeordnet, seit 1989 Ajatollah Ali Chamenei. In der Praxis wird seine Handlungsfreiheit durch eine Reihe von Gremien beschränkt, die zum großen Teil mit konservativen Klerikern besetzt sind. Dazu gehört der Wächterrat. Sie haben den derzeitigen Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad gestützt, sich jedoch gegen seinen Vorgänger Mohammed Chatami gestellt. Der Präsident ist für die Wirtschaftspolitik zuständig und führt die Tagesgeschäfte der Regierung. Er ist der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrates, der für die Koordinierung der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zuständig ist.
Oberster Geistlicher Führer: Der von der Expertenversammlung - zu der nur Religionsgelehrte mit dem Plazet des Wächterrats gewählt werden können - ernannte Geistliche hat das letzte Wort bei grundsätzlichen Fragen wie dem Atomprogramm des Landes oder den Leitlinien der Innen- und Außenpolitik. Zudem kontrolliert er Armee und Geheimdienste. Er ernennt auch die Chefs von Justiz, Staatsrundfunk und entscheidet über andere Schlüsselposten.
Wächterrat: Er ist das oberste Kontrollorgan für Rechtsfragen, ihm unterliegt damit auch die Aufsicht der Präsidentschaftswahl. Das Gremium setzt sich aus sechs hochrangigen Geistlichen und sechs Juristen zusammen. Der Rat entscheidet auch über die Zulassung von Kandidaten für die Präsidentenwahl. Bei dieser Wahl ließ er von 475 Bewerbern nur 4 zu.
Expertenrat: Er besteht aus 86 Geistlichen, die für 8 Jahre vom Volk nach Vorauswahl durch den Wächterrat gewählt werden. Er wählt den Obersten Rechtsgelehrten, überwacht seine Tätigkeit und kann ihn theoretisch wieder absetzen.
Vorerst haben die Machthaber, die von der Vehemenz der Proteste überrascht waren, einen kleinen Rückzieher gemacht. Revolutionsführer Ali Chamenei, der bislang Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad voll unterstützt und ihm voreilig zu seinem Sieg gratuliert hat, wies den für die Wahlen verantwortlichen Wächterrat an, die Zählung der Stimmen zu überprüfen.
Der Sprecher des Wächterrats, Abbasali Kadchodai, erklärte, der Rat werde die Überprüfung vornehmen und zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik die Öffentlichkeit detailliert über einzelne Wahlbezirke informieren. Zudem werde der Rat die Vorwürfe der unterlegenen Kandidaten anhören und sie überprüfen. Die ganze Prozedur werde zehn Tage dauern.
"Ich habe wenig Hoffnung, dass diese Überprüfung eine Lösung bringt", sagte Mir Hossein Mussawi, der den Wahlsieg für sich beansprucht. "Mein Vorschlag ist und bleibt die Annullierung der Wahl und Neuwahlen". Tatsächlich ist es kaum denkbar, dass der Wächterrat den Kritikern Recht geben und die Wahlfälschung zugeben würde. Im besten Falle wird der Rat gewisse Fehler und Unzulänglichkeiten eingestehen, die aber an dem Endergebnis nichts ändern werden.
Was dann geschehen wird, kann kaum jemand voraussagen. Eine Möglichkeit ist, dass die Machthaber ernsthaft durchgreifen und die Revolutionswächter, das Militär, die paramilitärischen Organisationen und die Milizenorganisation der Basidschis gegen die Protestierenden mobilisieren. Sie könnten auf diese Weise ein Blutbad anrichten und vorerst Ruhe schaffen. Diese Ruhe wäre allerdings nicht von Dauer, dazu sind die Dinge zu weit fortgeschritten. Dennoch ist ein solcher Schritt denkbar. Denn Ahmadinedschad, der niemals freiwillig auf die Macht verzichten würde, kann sich zumindest auf größere Teile der militärischen und paramilitärischen Kräfte stützen. Gerade sie haben ihm schon bei der letzten Wahl zum Sieg verholfen, und er hat sich während seiner vierjährigen Amtszeit dafür mehr als dankbar gezeigt. Die meisten Schlüsselpositionen im Staatsapparat wurden mit ehemaligen Revolutionswächtern besetzt, die Organisation ist unter Ahmadinedschad zum größten Machtfaktor im Land geworden, nicht nur politisch und militärisch, sondern auch ökonomisch. Sie hat die größten Staatsaufträge erhalten, steckt voll im Ölgeschäft und kontrolliert auch den höchst lukrativen Schwarzmarkt. Zu beachten ist auch, dass Ahmadinedschad immer noch eine große Basis im Volk hat. Gerade die ärmeren Schichten in der Provinz und in den Großstädten zählen zu seinen Anhängern. Es wäre also nicht auszuschließen, dass der Regierungschef sich in ein Abenteuer begibt und alle diese Kräfte gegen die Protestler mobilisiert.
Aber auch die andere Seite hat gewisse Instrumente, die sie gegen Ahmadinedschad und vor allem gegen Chamenei einsetzen könnte. Im Grunde richten sich die Proteste letztendlich nicht gegen den Staatspräsidenten, sondern weit mehr gegen den Revolutionsführer Chamenei, denn jeder weiß, dass die Wahlfälschung ohne Anordnung der höchsten Instanz der Islamischen Republik nicht möglich gewesen wäre. Auf Flugblättern, die am Montag bei der Demonstration im Umlauf waren, wurde bereits die Absetzung von Chamenei gefordert. Die Kritiker bezichtigen ihn der Fälschung, der Lüge und des Amtsmissbrauchs. Dass diese Vorwürfe sehr ernst genommen werden, zeigt sich auch in der auffallenden Zurückhaltung der Großajatollahs. Nur wenige unter ihnen haben bislang Ahmadinedschad zu seinem angeblichen Sieg gratuliert. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, wären dies vor allem aus religiöser Sicht Kardinalsünden, die die Abwahl Chameneis zufolge haben müsste.
Die zuständige Instanz für eine Abwahl wäre der Expertenrat. Der Expertenrat ist eine Versammlung von Geistlichen, die vom Volk direkt gewählt wird. Diesem Rat steht zurzeit der ehemalige Staatspräsident Haschemi Rafsandschani vor, den man als zweitmächtigsten Mann in der Führung der Islamischen Republik bezeichnet.
Rafsandschani steht nun auf der Gegenseite der Front. Sowohl Ahmadinedschad als auch die gesamte rechte Presse vermuten, dass Rafsandschani der eigentlich Drahtzieher von Mussawis Wahlkampf war. Sollte es hart auf hart kommen, könnte Rafsandschani im Expertenrat die Absetzung des Revolutionsführers beantragen. Erhält er dabei die Unterstützung religiöser Instanzen, ist ein Erfolg seinerseits möglich. Dieser Ausweg scheint zurzeit noch weit weg. Bei weiterer Eskalation der Lage könnte er eine Lösung bringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei