Proteste in Serbien: Studenten gehen auf die Barrikaden
Hochschüler haben landesweit über 30 Fakultäten besetzt. Sie fordern Rechtsstaatlichkeit. Der Auslöser der Proteste ist ein tödliches Unglück.
Zu dieser dramatischen Aussage haben den serbischen Autokraten Studentenproteste bewegt: Über 30 Fakultäten haben Studenten bisher „besetzt“, der Lehrbetrieb ist blockiert. Seit er vor einer Woche über die Anzahl der Studenten, die demonstrieren, spottete und sie bezichtigte, von in- und ausländischen Bösewichten Geld zu bekommen mit dem einzigen Ziel, ihn zu entmachten, hat sich ihre Anzahl verdoppelt.
Tijana, 23, hat die Nacht auf Samstag an der Fakultät für Politikwissenschaften (FPN) in Belgrad verbracht. Es ist eine von über 30 Fakultäten in vier serbischen Universitätsstädten, die Studenten besetzt haben. Fast täglich „fallen“ neue Fakultäten.
„Der Status der Bürger im serbischen Staatssystem hängt von ihrer politischen Überzeugung ab. Da gibt es keine Gerechtigkeit“, sagt die Studentin im letzten Studienjahr.
Absurde Beschuldigungen
Hochschüler fordern Rechtsstaatlichkeit in dem Staat, in dem nur noch der Wille von Vučić zählt. Das Regime findet keine Antwort darauf. Der Staatspräsident bezeichnet die protestierenden jungen Menschen als „ausländische Söldner“, die für eine Handvoll Dollar über ihren Staat herfielen. Die Rufmordmaschinerie der gleichgeschalteten Medien läuft auf Hochtouren.
Tijana lächelt nur über die absurden Beschuldigungen. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob unsere Blockaden das System verändern können, aber sie haben das Potenzial dazu, falls wir den Druck fortsetzen und sich die Verwaltungen der Fakultäten letztendlich hinter ihre Studenten stellen“, sagt sie.
Die vermeintlich so stabile serbische Autokratie, die den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat, gerät plötzlich ins Wanken, weil sich die als unpolitisch abgeschriebenen jungen Menschen lauthals zu Wort gemeldet haben.
Dabei war für den serbischen Autokraten Aleksandar Vučić zwölf Jahre alles gut gelaufen. Zuerst als Regierungschef und dann als Staatschef stellte er sich über alle und alles. Schritt für Schritt zertrampelte er Verfassung und Gesetze, nahm staatliche Institutionen und Medien unter seine Kontrolle und versuchte die Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen.
Scheinbar unantastbar
Mit Leichtigkeit spielte er über ein Jahrzehnt lang die zerstrittene Opposition an die Wand. Sporadische, zum Teil auch massive Bürgerproteste, neutralisierte er mit nur geringer Gewaltanwendung. Vučić schien unantasbar.
Doch dann brach am 1. November die Dachrinne des Bahnhofs in Novi Sad, der Hauptstadt der Provinz Vojvodina, ein, 15 Menschen starben. Dem Schock folgte die Trauer und der Trauer die Wut vieler Bürger.
„Das ist kein Unglücksfall. Das ist Mord!“, sagte Marinka Tepić, Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei „Freiheit und Gerechtigkeit“. Ähnlich klingt das auch bei anderen Oppositionspolitikern.
Bojan Pajtić, Rechtswissenschaftler in Novi Sad und Ex-Regierungschef der Vojvodina, sieht die Ursachen der Tragödie in „Inkompetenz und endemischer Korruption“. Zwei Minister traten nach dem Unglück zurück, dreizehn Menschen wurden wegen des Verdachts auf Fahrlässigkeit festgenommen. Doch das reichte nicht aus.
Landesweiter Kampfruf
Der Slogan „Ihr habt Blut an den Händen“ erschallt wie ein Kampfruf im ganzen Land, das Symbol einer blutigen Hand ist das neue Banner der Opposition, die die Proteste gegen das „korrupte“ Regime organisiert.
Die Opposition ruft die Bürger zur Aktion unter dem Motto „15 Minuten für 15 Opfer“ auf – der Verkehr wird dabei angehalten. Diese Aktionen störten Provokateure, die als Funktionäre der Regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) identifiziert wurden.
Doch dann wurden bei einer dieser Protest- und Gedenkmanifestationen Studenten der Film- und Theaterfakultät in Belgrad (FDU) verprügelt, die Gewalttäter waren ebenfalls bekannte Mitglieder der SNS. Die Studenten hatten die Nase voll, blockierten ihre Fakultät und forderten, dass die Angreifer festgenommen würden.
Studenten anderer Fakultäten folgten dem Beispiel und stellten zwei zusätzliche Bedingungen: Die bei Protesten verhafteten Bürger müssten freigelassen sowie alle geheimgehaltenen Bauprojekte des Bahnhofs in Novi Sad öffentlich gemacht werden.„Blockaden sind derzeit das einzige Mittel, um die Aufmerksamkeit der Machthaber auf die Forderungen der Studenten zu lenken“, sagt Tijana.
Flamme des Aufstands
Die Situation erinnert an die Studentenproteste in Serbien 1996/1997, die zum Sturz von Slobodan Milošević geführt hatten. Ein autoritäres Regime kann nicht nachgeben, doch es ist sehr schwer, junge Menschen zu beruhigen, wenn die Flamme des Aufstands gegen Ungerechtigkeit lodert.
Über 1.000 Professoren und Wissenschaftler haben mittlerweile eine Petition unterzeichnet, die die Studenten unterstützt. Schauspieler des serbischen Nationaltheaters stellten sich genauso hinter ihre jungen Kollegen von der Akademie wie Lehrer und Landwirte, die parallel dazu soziale Proteste organisieren.
Mittlerweile hat sich auch das Rektorat der Universität Belgrad mit den Studierenden solidarisch erklärt. Zum ersten Mal, seit er die Macht ergriffen hat, scheint der Herrscher über Serbien, Aleksandar Vučić, ratlos zu sein.
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