Proteste in Serbien: SerbInnen haben die Nase voll
Den vierten Samstag demonstrieren in Belgrad Tausende gegen den Präsidenten. Staatsnahe Medien nennen die Demonstranten „Faschisten“.

Wie an den vergangenen drei Samstagen zieht eine unüberschaubare Menschenmenge am Gebäude der regimetreuen Tageszeitung Politika vorbei, biegt dann um die Ecke zum Staatsfernsehen ab, das in die Propagandamaschinerie von Vučić und seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) eingespannt ist. Das Staatsfernsehen berichtet zwar in den Nachrichten über die Proteste, doch nur kurz und erst nach zwanzig Minuten. Es ist von „einigen Tausend unzufriedenen Bürgern“ die Rede.
Gleichgeschaltete serbische Medien gehen mit den Massenprotesten auf zweifache Art und Weise um: Die einen schweigen sie tot, die anderen berichten über oppositionelle „Schurken, Diebe, Kriminelle, Tycoons, Faschisten“, die mit ihrem „schmutzigen, gestohlenen Geld“ die Demos organisieren, um „an die Macht zu kommen und Serbien wieder ausplündern zu können“.
Das wird wie ein Mantra wiederholt, immer wieder, zigmal am Tag, bei jeder sich bietenden Gelegenheit – selbst wenn es um einen Verkehrsunfall mit Todesopfern geht. Die Opposition ist an allem schuld.
Systematische Verbalattacken
Die systematischen verbalen Attacken und Medienkampagnen von Präsident Vučić und seinen Gefolgsleuten gegen die Opposition, kritische Medien, Andersdenkende sind ein Grund für die Massenproteste. „Das hat zu einer Spaltung und aggressiver Stimmung in der Gesellschaft geführt“, sagt der stellvertretende Chefredakteur des Wochenmagazins Vreme, Filip Švarm. Verbale Gewalt könne leicht in physische Gewalt übergehen.
So wurde vor wenigen Wochen der Vorsitzende der oppositionellen Linken Partei, Borko Stefanović, krankenhausreif geprügelt. Der Angriff auf ihn war der Auslöser für die Proteste. Das Foto, das zeigt, wie Stefanović mit Kopfverletzungen und blutverschmiertem Hemd behandelt wird, wurde zum Symbol der ersten Demonstration unter dem Motto: „STOPP die blutigen Hemden“.
Über die Anzahl der Teilnehmer an den „Samstagsdemonstranten“ gehen die Meinungen weit auseinander. Nebojša Stefanović, Innenminister mit plagiiertem Doktortitel und von den Demonstranten wegen. mehrerer unaufgeklärter Mordfälle zum Rücktritt aufgefordert, sprach vor laufenden TV-Kameras von 4.000 bis 5.000 Demonstranten, die Organisatoren und die Opposition von 40.000 bis 50.000.
Seit sechs Jahren sind Vučić und seine SNS an der Macht. Der Staatspräsident führt sich wie ein Volkstribun auf, um ihn ist ein Personenkult aufgebaut worden, er hat sich über Parlament und Regierung gesetzt. Sein aggressiver Populismus spaltet die Bürger Serbiens in brave Patrioten, die ihn unterstützen, und „Verräter und Kriminelle“, die gegen ihn sind.
Kein bisschen nachgeben
Eine Mitte und einen Dialog gibt es nicht. Andere Meinungen werden nicht geduldet. Über die Proteste sagte Vučić: „Selbst wenn fünf Millionen auf die Straße gehen, werde ich ihnen kein bisschen nachgeben.“ Darauf antworteten die Demonstranten: „Ich bin einer von fünf Millionen.“
Die Samstagsproteste sind keine Demonstrationen von Studierenden, das Durchschnittsalter der Teilnehmer liegt schätzungsweise bei weit über vierzig Jahren. Ihre Mienen sind ernst, als würden sie eine Pflicht erfüllen. Und immer wieder hört man das Gleiche: „Wir wollen uns nicht länger für Blöd verkaufen lassen. Wir wollen uns diese wahnsinnigen Lügen nicht länger anhören“.
Am vergangenen Samstag zogen Tausende Demonstranten auch am TV-Sender Studio B in Belgrad vorbei, als dort Vučić gerade ein Interview gab. Der Präsident war verärgert. Diesen oppositionellen „Dieben“ und „Faschisten“ werde er nicht nachgeben, sagte er. Die unzufriedenen Bürger wolle er aber anhören, auch wenn es nur eine Handvoll sei.
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