piwik no script img

Proteste in ArgentinienZehntausende protestieren auf der Plaza de Mayo

In Buenos Aires demonstrieren Gewerkschaften gegen eine von der Regierung Milei vorgelegte Arbeitsrechtsreform. Die Entscheidung darüber wurde nun vertagt.

Die geplante Arbeitsrechtsreform in Argentinien treibt die Gewerkschaften auf die Straßen von Buenos Aires Foto: Tomas Cuesta/reuters
Jürgen Vogt

Aus Buenos Aires

Jürgen Vogt

Die fliegenden Händler gekühlter Getränke hatten Hochkonjunktur. Unter dem Motto „Zur Verteidigung der Arbeit und der Würde“ demonstrierten der argentinische Gewerkschaftsdachverband CGT, soziale Basisorganisationen und linke Parteien am Donnerstag gegen eine von der Regierung vorgelegte Arbeitsrechtsreform.

Während die Reform im Kongress debattiert wurde, versammelten sich bei 32 Grad Hitze Zehntausende auf der Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast. Sie unterstrichen damit, dass sich der Protest gegen den libertären Präsidenten Javier Milei richtete.

„Seit Milei das Präsidentenamt angetreten hat, haben 20.000 Unternehmen geschlossen, mehr als 275.000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen, und die Industrie arbeitet nur noch mit 60 Prozent ihrer Kapazität“, sagt José Mancho. Der 46-Jährige arbeitet in einer Metallfabrik im Großraum Buenos Aires und steht jetzt auf der Plaza de Mayo. „Und jetzt verspricht Milei, mit seinen Reformen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wer soll das glauben?“, fragt er.

Gewerkschaften als einzige Opposition

Das Reformpaket ist weitreichend. So soll das Streikrecht eingeschränkt und die automatische Verlängerung von Tarifverträgen beseitigt werden. Einstellungen und Entlassungen sollen flexibilisiert werden. Dazu gehören die Kürzung der Abfindungen bei Entlassungen, die Auszahlung von Löhnen in Pesos oder Fremdwährung, die Einführung eines Zeitkontos zur Verteilung der Arbeitszeit und die Aufteilung des Urlaubs in Abhängigkeit von der Auftragslage der Unternehmen.

Derzeit scheinen die Gewerkschaften die einzige ernsthafte Opposition zur Regierung zu sein. So ist es kein Zufall, dass das 71 Seiten umfassende Reformpaket mit seinen 197 Artikeln zuerst im Senat behandelt wird. Dort haben die oppositionellen Peronisten ihre historische Mehrheit bei den Teilwahlen zum Kongress im Oktober verloren, während Milei mit den eigenen Mandatsträgern zusammen mit inzwischen übergelaufenen Verbündeten eine Mehrheit von 44 der 72 Senatoren hinter sich versammeln kann.

Die Gewerkschaften können auf die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung zählen. Dies belegt eine Umfrage, die in den letzten Tagen vom renommierten Meinungsforschungsinstitut Management & Fit durchgeführt wurde. Laut der Umfrage lehnen 52 Prozent der Befragten das Reformpaket ab, nur knapp 44 Prozent befürworten es. Doch die Debatte um die konkreten Reforminhalte hat gerade begonnen. Die Kampfkraft der Gewerkschaften ist beschränkt.

Millionen im informellen Sektor beschäftigt

Von den 6 Millionen Beschäftigten im Privatsektor sind lediglich 15 Prozent gewerkschaftlich organisiert. Dagegen müssen sich 9 Millionen Personen ohne Arbeitsverträge, Sozialversicherungen oder zusätzlichen Leistungen wie etwa Urlaubsgeld im informellen Sektor durchschlagen. Sie sind zum Teil in den alternativen Gewerkschaften zusammengeschlossen, die jedoch nicht offiziell als Gewerkschaften anerkannt sind.

„Den Gewerkschaftsfunktionären geht es doch nur um sich selbst“, meint dagegen León Mitre. Der Buchhalter ist auf dem Nachhauseweg und überquert wie üblich die Plaza die Mayo. „In erster Linie wollen sie den Solidaritätsbeitrag retten“, erklärt der 38-Jährige. „Dazu lassen sie heute die Muskeln spielen, um besser mit der Regierung verhandeln zu können. Die Beschäftigten interessieren sie nicht wirklich“, lässt er kein gutes Haar am Auftritt der Gewerkschaftsbosse auf der Bühne vor dem Präsidentenpalast.

Argentiniens Gewerkschaften finanzieren sich nicht nur über die Beiträge der Mitglieder. Beschäftigten, die nicht Gewerkschaftsmitglied sind, wird ein sogenannter Solidaritätsbeitrag vom Lohn abgezogen und an die jeweils für die Branche zuständige Gewerkschaft überwiesen. Höhe und Laufzeit dieser Solidaritätsbeiträge werden in den ausgehandelten Tarifverträgen stets neu festgelegt, um nicht als Zwangsabgabe zu gelten.

Angesichts der tatsächlichen Mitgliederzahlen wird deutlich, wie wichtig dieser Solidaritätsbeitrag ist. „Wenn die Regierung die Streichung des Solidaritätsbeitrags zurücknimmt, werden die Gewerkschaften bei vielen Punkten einlenken“, ist sich Mitre sicher. „Milei kürzt alles rigoros zusammen“, sagt Marta Krumlac. Die Lehrerin war schon am frühen Morgen aus La Plata angereist.

„Das Bildungssystem leidet seit Jahren unter Einsparungen. Aber seit Milei da drin sitzt, geht es richtig bergab“, sagt die 52-Jährige und zeigt Richtung Präsidentenpalast. Sie setzt ihre Hoffnungen auf den Generalstreik, den die Gewerkschaften angekündigt haben, sollte der Kongress dem Reformpaket zustimmen. Einen Teilerfolg haben die Protestierenden errungen.

Die Regierung hat die weitere Behandlung des Reformpakets im Kongress auf den 10. Februar vertagt. Dann dürfte es auch auf der Plaza de Mayo wieder etwas kühler sein.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Die Wirtschaftdaten in Argentinien entwickeln sich viel besser als unsere. Einige Daten wären schön gewesen in diesem Beitrag. In Argentinien war es bis vor kurzem so das es sogar eine Gewerkschaft der Arbeitslosen gab die das Recht hatte Unternehmen zu blockieren um höhere Sozialhilfe zu erreichen..

  • Zwei Sachen stören mich bei dem Text.



    1.) Warum wählen die Leute Milei, man wusst doch vorher schon was kommt? Oder geht es hier um die Personen, die ihn sowieso nicht gewählt haben?



    2.)die geringe Oranisation der Angestellten bei der Gewerkschaft. Ist das nicht inzwischen Standard? Wie oft habe ich von Kolleginnen die ich anwerben wollte, mein Mann verdient genug, brauch ich nicht, bzw der "Mitgliedsbeitrag" ist zu hoch. Ach ja, hier in Deutschland nicht in Argentinien.

    Offensichtlich ist es egal, ob man eine rechte oder linke ( keine EXTREME egal in welche Richtung) Regierung hat.

    Zitat: haben 20.000 Unternehmen geschlossen, mehr als 275.000 Arbeitsplätze sind verloren

    mit etwas anderen Zahlen gilt das auch für Deutschland.

    Zitat: „Das Bildungssystem leidet seit Jahren unter Einsparungen. Aber seit Milei da drin sitzt, geht es richtig bergab“

    Streiche Milei, setzte Merz oder Scholz, passt!

  • Kontext: Der Platz hat nichts mit Pommessauce und viel mit Widerstand gegen die Militärdiktatur (Madres de Plaza de Mayo) damals zu tun.