Proteste gegen die Regierung Duque: Kolumbien kommt nicht zur Ruhe
Die Proteste gegen die Regierung von Präsident Iván Duque setzen sich fort. Dem nationalen Streikkomitee gelingt es kaum, die Blockaden aufzulösen.
So erzählt es ihr Freund Andrés. Am nächsten Tag lagen ihre Leichen im Straßengraben. „Im Polizeireport stand als Todesursache ein Verkehrsunfall. Carlos’ Vater sagte mir aber, dass Einschusslöcher im Tank waren“, sagt Andrés der taz. Im Dokument der Staatsanwaltschaft über Gregorio steht als Todesursache: Mord.
Erst nach 18 Tagen rückte die Rechtsmedizin Gregorios Leiche heraus, Freunde hatten sich dafür Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern und einem Padre geholt. Gregorio stammt aus Venezuela, wo seine Familie lebt. Kein Angehöriger hat Geld, um zur Beerdigung anzureisen.
Per Videobotschaft erlaubte die Mutter den Behörden, ihren toten Sohn den Freunden in Kolumbien auszuhändigen. Der Leichenzug fuhr sämtliche Blockaden im Viertel ab, wo alle Gregorio kannten, erzählt Andrés.
Bisher mindestens 61 Tote
Er selbst will trotz der Risiken weiter protestieren. Seit die Proteste gegen die Regierung am 28. April begannen, sind nach Angaben der Ombudsstelle des Volkes 61 Menschen gestorben. Die meisten davon in Cali.
Auslöser der Proteste war eine geplante Steuerreform. Diese ist wie auch eine geplante Gesundheitsreform längst gekippt. Die Proteste sind abgeflaut, gehen aber weiter. Denn ihre Ursachen sind so vielfältig wie die Ziele.
Ein Grund ist der brüchige Friedensprozess und die große Ungleichheit im Land, die von der Pandemie noch verstärkt wurde. 42 Prozent der Kolumbianer:innen gelten als arm. Die Proteste werden vor allem von Jungen getragen, die eine bessere Zukunft wollen – Der Finanzminister und die Außenministerin sind zurückgetreten. Doch Präsident Iván Duque setzt weiter auf Militarisierung.
„Die von der Polizei begangenen Menschenrechtsverletzungen sind keine Einzelfälle undisziplinierter Polizisten, sondern Ergebnis tiefgreifender struktureller Fehler“, sagt José Miguel Vivanco von Human Rights Watch (HRW).
Auch bewaffnete Zivilisten töten Protestierende
Von den 68 Toten, die der Organisation gemeldet wurden, konnte sie bisher bestätigen, dass 34 bei den Protesten starben inklusive zweier Polizisten. Die Mehrheit der Opfer sind Demonstrierende oder Passant:innen. Polizisten sollen mindestens 20 getötet haben. Bewaffnete Zivilisten haben mindestens 5 Menschen getötet.
In den sozialen Medien kursierende Videos zeigen Zivilisten, die in wohlhabenderen Vierteln von der Polizei ungehindert auf Demonstrierende schießen. Dies legt nahe, dass sich paramilitärische Strukturen bilden.
HRW kritisiert auch, dass mehrfach Polizisten scharf auf eindeutig unbewaffnete Demonstrierende geschossen hätten. Außerdem setzte die Polizei sogenannte nicht letale Waffen so ein, dass sie töten können. HRW nennt auch Augenverletzungen, sexuelle Gewalt und massenhafte illegale Festnahmen durch die Polizei.
Präsident Duque hat nach langem Widerstand eine Polizeireform und eine Modernisierung des Verteidigungsministeriums angekündigt, dem Polizei und Armee unterstehen.
Oppositionspolitiker:innen und HRW fordern hingegen, dass die Polizei künftig dem Innenministerium unterstellt und die berüchtigte Anti-Aufstands-Einheit (Esmad) aufgelöst wird. Für Justizminister Wilson Ruiz sind die Toten hingegen nur „Einzelfälle bei Straßenraufereien“ und die Drahtzieher der Proteste organisierte kriminelle Gruppen. Das klingt nach weiterer Kriminalisierung.
Streikkomitee hat nur eine begrenzte Macht
Das nationale Streikkomitee hat vor einer Woche die Verhandlungen mit der Regierung abgebrochen, weil diese eine getroffene Vorvereinbarung immer noch nicht unterschrieben habe. Laut Regierung ist das Papier hingegen nur ein Entwurf gewesen.
Tatsächlich hatte das Komitee eine schwierige Aufgabe. Es ist zwar divers besetzt, vertritt aber längst nicht alle gesellschaftlichen Strömungen. Die Hauptforderung der Regierung ist eine Beendigung der Blockaden. Das kann das Komitee nur teilweise erreichen. Denn in Cali etwa werden sie in den Vierteln selbst organisiert. Auch Blockaden indigener Gemeinschaften lassen sich nicht von Bogotá aus abblasen.
Die Proteste haben Kolumbien laut Finanzministerium bislang umgerechnet 2,6 Milliarden Euro gekostet. Davon sind knapp die Hälfte Vandalismusschäden an öffentlicher Infrastruktur. Die Blockaden hemmen den Transport von Erdöl, Kohle, Kaffee und ließen Lebensmittelpreise ansteigen. Trotz humanitärer Korridore sehen sie teils auch Befürworter:innen der Proteste kritisch.
In Cali spricht die „Union der Widerstände“ der Jugend direkt mit Vertretern des Rathauses und der Regionalregierung. Einige Barrikaden wurden aufgehoben. Doch geht das Sterben weiter. Für Andrés sind diese direkten Gespräche der richtige Weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind