Proteste gegen Wahlbetrug: Ausnahmezustand in Armenien
Bei Demonstrationen in der Hauptstadt Eriwan werden acht Menschen getötet und 33 verletzt. Der Staatspräsident verhängt den Ausnahmezustand.
In der armenischen Hauptstadt Eriwan ist es am Wochenende zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Sicherheitskräfte gingen am Sonnabend mit Tränengas und Gummigeschossen gegen rund 15.000 Demonstranten vor, die sich im Zentrum versammelt hatten. Nach Angaben der Polizei kamen bei den Zusammenstößen 8 Menschen ums Leben, 33 wurden zum Teil schwer verletzt.
Präsident Robert Kotscharian verhängte daraufhin den Ausnahmezustand in der Kaukasusrepublik, den das Parlament noch in der Nacht zu Sonntag bestätigte. Zuvor hatten Regierungsgegner, die seit mehreren Tagen im Zentrum eine Zeltstadt aufgeschlagen haben, Barrikaden errichtet. Nach dem Eingriff der Polizei zogen Tausende plündernd und brandschatzend durch die Innenstadt. Gestern früh war in Eriwan wieder Ruhe eingekehrt. Panzerfahrzeuge kontrollierten das Zentrum der Hauptstadt. Die Verhängung des Notstands gilt für mindestens 20 Tage. Demonstrationen und die Verbreitung von nichtamtlichen Nachrichten sind verboten.
Anlass der Ausschreitungen waren die Präsidentenwahlen vor zwei Wochen, die der Vertraute des amtierenden Präsidenten, Serge Sarkisian, gleich im ersten Wahlgang mit 53 Prozent gewann. Die Anhänger der Opposition gehen von Wahlbetrug aus.
Aussichtsreichster Kandidat der Opposition ist Expräsident Levon Ter-Petrosian. Offiziell erhielt er knapp 22 Prozent. Nach den gestrigen Ausschreitungen forderte er seine Anhänger zum Rückzug auf. "Unsere Kräfte sind nicht gleich verteilt, und wir sind von Soldaten umzingelt", hieß es in dem Aufruf. Nach eigenen Angaben befindet sich Ter-Petrosjan seit Tagen unter Hausarrest. Die Regierungsseite bestreitet dies. Auch die Wahlbeobachter der OSZE und des Europarats hatten bei dem Wahlgang ungleiche Ausgangsbedingungen moniert, das Resultat aber nicht in Frage gestellt. Die Opposition verlangt eine Neuauszählung der Stimmen.
Der Protest und die massenhafte Unterstützung Ter-Petrosians verweisen jedoch noch auf andere Hintergründe. Die Armenier demonstrieren damit auch gegen die weit verbreitete Korruption, Unterschlagung und Misswirtschaft im Land. Wer nicht den herrschenden Clans angehört, hat nur mäßige Aussicht auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Den Unmut der Bevölkerung brachte Wahan Howanissian auf den Punkt, der sich als Vermittler zwischen den Streitparteien anbot. Bis vor kurzem gehörte Howanissian der Regierungskoalition an und war bis zur Niederlegung seines Amtes vorletzte Woche, Vizevorsitzender des Parlaments: "Wenn so viele Menschen Ter-Petrosian unterstützen, sollte sich die Verantwortlichen fragen, was sie falsch gemacht haben."
Auch Oppositionsführer Petrosian war es in seiner Amtszeit nicht gelungen, die Korruption der Bürokratie zu unterbinden. Inzwischen machen sich auch im Regierungslager Zweifel breit. Mehrere hochgestellte Beamte, Diplomaten und Minister wechselten ins Lager der Opposition.
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