Proteste gegen Putin in Russland: Sie wollen nicht mehr schweigen
Die Polizei nimmt wahllos Passanten fest. Dennoch verabreden sich Rentner, Junge und Studenten im Internet und demonstrieren Abend für Abend in St. Petersburg.
ST. PETERSBURG taz | Seit Montag nach den Wahlen finden sich viele Petersburger vor dem "Gostiny Dwor" ein, einer Shoppingmeile am Newski-Prospekt im Herzen der 5-Millionen-Einwohner-Stadt, um für ehrliche Wahlen zu demonstrieren.
Die 25-jährige Anja Sagorodnewa war am Dienstagabend erstmals mit dabei. Um acht Uhr rief sie ihre Schwester an, als man sie gerade zu einer Milizstation fuhr. Dann schwieg das Telefon, das Akku war leer. "Ich war auf eine Festnahme gar nicht vorbereitet", erzählt Anja. "Die ganze Nacht war ich in Untersuchungshaft, ohne Wasser und Essen. Am nächsten Morgen dann fuhren sie uns zum Gericht."
Einen Richter allerdings bekamen sie nicht zu sehen. Dutzende von Verhafteten saßen in fünf Bussen. "Wir saßen den ganzen Tag und warteten, bis es dunkel wurde. Wahrscheinlich wollten sie nicht, dass wir uns schon wieder zum Gostiny Dwor aufmachten. Um zehn Uhr brachten sie uns zurück zur Miliz, wo wir noch eine Nacht in Zellen verbachten."
Die Demonstrationen: Landesweit hat die russische Opposition zu Protesten gegen die Wahlfälschung vom Sonntag aufgerufen. Die Moskauer Stadtverwaltung hat eine Kundgebung mit maximal 30.000 Teilnehmern auf dem Bolotnajaplatz zugelassen. Bis Freitag hatten sich allerdings schon 60.000 Teilnehmer im Internet allein für Moskau angesagt.
Die Forderungen: Nach Angaben der Organisatoren unter Führung der Bewegung Solidarnost fordern die Regierungsgegner faire und freie Neuwahlen sowie die Freilassung der politischen Gefangenen. In Dutzenden weiteren Städten von Wladiwostok am Pazifik bis nach Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, sind Proteste geplant.
Die Einschüchterung: Die Moskauer Behörden zogen am Freitag Sicherheitskräfte mit schwerer Technik zusammen. Innenminister Nurgalijew kündigte ein hartes Vorgehen gegen nicht genehmigte Straßenaktionen an. Fast 50.000 Polizisten und rund 2.000 Angehörige von Sondereinheiten werden dort im Einsatz sein.
In Deutschland: Auch in Deutschland haben Putin-Gegner für den Samstag zu Protesten aufgerufen, so in München, Frankfurt am Main, Freiburg, Köln und vor der russischen Botschaft in Berlin.
Am selben Abend, als Anja festgenommen wurde, nahmen sie auch Sascha Krylow mit. Der 14-Jährige spielt Klarinette, kam vom Musikunterricht. An der U-Bahn-Station Gostiny Dwor wartete seine Mutter. Sie habe ihren Sohn bereits kommen sehen, erzählt sie. Plötzlich hätten Polizisten der Sondereinheit Omon die Menschen eingekesselt. Sascha schlugen sie das Telefon aus der Hand, dann fuhren sie mit ihm davon. Journalisten berichteten umgehend über die Festnahme von Sascha Krylow, und sie fanden heraus, in welcher Milizstation er einsitzt.
Das Verhörprotokoll war schon ausformuliert
Fünf Stunden später war Sascha wieder bei seinem Vater. "Sogar das Verhörprotokoll für meinen Sohn hatten sie schon ausformuliert", erzählt Saschas Vater. "Dort stand: "Verhaftet um 19.15 Uhr nach Rufen ,Nieder mit der Partei Vereinigtes Russland'. Doch Saschas Unterricht endete erst um fünf nach sieben", sagt der Vater weiter. Dabei habe sich Sascha nie für Politik interessiert. "Auf dem Nachhauseweg berichtete Sascha, er habe ganze Stapel von fertig ausgefüllten Protokollen gesehen. Grund und Zeitpunkt der Verhaftung seien schon eingetragen gewesen. Nur der Name war noch frei."
In einem der Polizeibusse haben sich ein junger Mann und ein junge Frau kennengelernt. Beide haben am Sonntag in Wahlkommissionen mitgearbeitet. "Bis vier Uhr morgens haben wir in der Wahlkommission gesessen" beginnt sie. "Ich habe gesehen, wie viele Stimmen wirklich für das Vereinte Russland abgegeben worden sind."
"Gewonnen hat bei uns Gerechtes Russland", erzählt der Mann, "an zweiter Stelle lag Vereintes Russland mit knapp 20 Prozent. Später habe ich dann das Wahlergebnis für unsere Stadt gesehen. Danach liegt Vereintes Russland bei 36 Prozent - das sin 15 Prozentpunkte mehr als in unserem Wahlbezirk und den Bezirken, deren Ergebnisse ich kenne. Vorsichtig gesagt, passt mir das nicht."
"Ich bin für ehrliche Wahlen"
Studierende, Kinder, Schüler schlugen im Internet umgehend Alarm. Bald darauf machten sich Hunderte am Montagabend auf den Weg zum Gostiny Dwor. Und sie taten es auch am nächsten Abend und am nächsten wieder, weil sie sich als Wähler betrogen fühlen. Sie wollen nicht mehr schweigen.
Eine von ihnen ist die Rentnerin Tatjana. "Im sozialen Netzwerk vKontakte habe ich 300 Freunde und noch einmal 100 Abonnenten. Ich hatte die Statusmeldung "Ich bin für ehrliche Wahlen" abgesetzt und alle aufgerufen, den Machthabern das Gleiche zu sagen. Inzwischen trage ich diesen Satz sichtbar auf meinem Halsband, so lange, bis Neuwahlen angesetzt werden oder die Machthaber zumindest die Fälschungen einräumen."
Die Polizei ist ratlos
Über 500 Menschen hatten sich am Dienstag vor dem Gostiny Dwor eingefunden. Sie singen die russische Nationalhymne. Das hatte es hier noch nicht gegeben: Alte Menschen, Jugendliche, zufällige Passanten singen die Hymne. Die Polizei ist ratlos und schweigt.
Nach einigen Minuten kommt dann doch Bewegung in die Reihen der Omon-Polizei. Die Menge singt inzwischen "Katjuscha", ein bekanntes Kriegslied. Nach den ersten beiden Strophen unterbricht die Polizei den Chor.
Doch am nächsten Abend werden die Menschen wieder dort stehen und wieder singen. // (Aus dem Russischen Bernhard Clasen)
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