Proteste gegen Erdogan: „Ein lupenreiner Antidemokrat“
Weil der türkische Ministerpräsident Erdogan nicht zur Preisverleihung erschienen ist, wurde ihm der „Steiger Award“ nicht verliehen. Zehntausende demonstrieren gegen ihn.
BOCHUM taz | Fast 25.000 Menschen mit Wurzeln aus der Türkei haben am Samstag in Bochum gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan protestiert. Bei getrennten Demonstrationen warfen Aleviten, Kurden, Armenier und türkische Sozialdemokraten Erdogan und dessen Regierungspartei AKP Menschenrechtsverletzungen vor.
Erdogan sei ein „Mörder“, seine AKP eine „Killer-Partei“ hieß es besonders auf Transparenten der rund 22.000 alevitischen Demonstranten unter Verweis auf das Pogrom in der zentralanatolischen Stadt Sivas immer wieder.
Dort hatte 1993 eine islamistische Menschenmenge Brandsätze in ein Hotel geworfen, in dem Teilnehmer eines alevitischen Kulturfestivals festsaßen. 35 Menschen verbrannten oder erstickten – sie wurden in dem brennenden Gebäude festgehalten. Obwohl frühzeitig alarmiert, unternahmen Polizei und Feuerwehr acht Stunden lang nichts zu ihrer Rettung. Erdogans Regierung decke die „Drahtzieher und Täter des Massakers noch heute“, argumentiert der Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschlands, Ali Dogan. Erst am Dienstag habe die „von der AKP dominierte türkische Justiz“ den Fall für verjährt erklärt.
Erdogans Absage
Auslöser der Proteste im Ruhrgebiet war die geplante Verleihung des sogenannten „Steiger-Awards“ an Erdogan. Der türkische Regierungschef sollte den undotierten Preis, mit dem nach Willen der Initiatoren „Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz“ prämiert werden, am Samstag in Bochum in der Kategorie „Europa“ entgegennehmen. Zu den weiteren Preisträger zählen in diesem Jahr die schwedische Königin Silvia, der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler und der Modemacher Wolfgang Joop.
Erdogan hatte seine Deutschlandreise aber in der Nacht zum Samstag abgesagt. Begründet wurde dies mit dem Absturz eines türkischen Militärhubschraubers auf ein Wohnhaus in der afghanischen Hauptstadt Kabul, bei dem mindestens ein Dutzend Menschen ums Leben kamen. Unklar sei, „ob, wann und wie“ der Regierungschef den Preis doch noch erhalten solle, sagte eine Sprecherin des Veranstalters des „Steiger Awards“, Sascha Hennen, der taz.
Willkürliche Inhaftierungen
Schon vor der Preisverleihung hatten auch Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände die Auszeichnung Erdogans kritisiert. Die sei „ein Schlag ins Gesicht der Opfer von willkürlicher Haft und Folter in der Türkei“, schrieb etwa der Generalsekretär der Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, in einem offenen Brief. Erdogan trage die Verantwortung für „Repressalien gegen regierungskritische Journalisten und für willkürliche Verhaftungen von Berichterstattern", klagte der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, Michael Konken – in der Türkei sind derzeit rund 100 Journalisten in Haft.
Der Publizist Ralph Giordano kritisierte besonders den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, der die Laudatio halten sollte: Erdogan leugne noch immer den Völkermord an den Armeniern und verkörpere „diese türkische Lebenslüge wie kein zweiter“. Schröders Laudatio müsse also verlogen ausfallen.
„Erdogan ist ein lupenreiner Antidemokrat“, betonte auch der Alevit Dogan im Gespräch mit der taz. Seine Religionsgemeinschaft, die sich aus dem schiitischen Islam entwickelt hat, werde von der sunnitischen Mehrheit in der Türkei noch immer unterdrückt. Drastisch war auch der Protest kurdischer Gruppen: Knapp 1.000 DemonstrantInnen trugen stilisierte Särge durch Bochum, mit die mit den Worten „Getötet von Erdogan“ oder „Getötet durch das türkische Militär“ beschriftet waren.
Erinnert werden sollte damit auch an einen Luftangriff auf angebliche Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, bei dem Ende Dezember über 30 Zivilisten getötet wurden. In Sprechchören wurde der Ministerpräsident immer wieder als „Terrorist“ bezeichnet und die Freilassung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan gefordert.
Im gut gefüllten Bochumer Ruhrstadion, das knapp 30.000 Menschen fasst, lobten Vertreter des Vorstands der alevitischen Gemeinde immer wieder die hohe Teilnehmerzahl: Die 22.000 Demonstranten repräsentierten den Kampf großer Teile der türkischen Community in Deutschland gegen die Politik der türkischen Regierung.
Auch Erdogan selbst nutzt Reisen in die Bundesrepublik zu Wahlkampfzwecken. Dabei warnt er immer wieder vor zu starker Anpassung an die deutsche Gesellschaft – bei einer Rede in Köln 2008 nannte er Assimilation „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Im März 2011 konnte er allerdings nur 10.000 Anhänger ins Düsseldorfer Eisstadion mobilisieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“