Protest: Die neue Agora

Im Geiste von Brecht und Dylan demonstrieren Flüchtlinge inmitten von Kreuzberg mit einem Tribunal gegen den Staat und für einen würdigeren Umgang.

"Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört." Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz Bild: dpa

Am Samstag endete das dreitägige „Refugee-Tribunal“ auf dem Mariannenplatz mit einer Demonstration durch Kreuzberg und Neukölln. 300 Leute beteiligen sich, die Liste ihrer Forderungen ist lang – aber bekannt. Es geht um eine würdigere Behandlung der Flüchtlinge vor allem aus den afrikanischen und arabischen Ländern: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“ Seit Oktober, im Anschluss an ihren Marsch der Würde, der sie nach Berlin führte, zelten etwa 50 von ihnen auf dem Oranienplatz, wo sie für ihre Forderungen werben: Bleiberecht, Abschiebungen stoppen, Abschaffung der Residenzpflicht, eine bessere medizinische Versorgung in den Flüchtlingsheimen.

Wie zum Beweis, dass die vom Tribunal wegen ihrer „rassistischen Politik“ angeklagte Bundesrepublik sich wirklich bemüht, Ausländern das Leben hier so unangenehm wie möglich zu machen, wurden Flüchtlinge aus einer Halberstädter Asylunterkunft, die an dem Aufmarsch teilnehmen wollten, von einem Polizeiaufgebot in Magdeburg an der Weiterfahrt gehindert. Am Samstag zog die Polizei gleich hinter der Solidaritätsdemonstration auf dem Kottbusser Damm einen Minibus mit einer Romasippe aus dem Verkehr. Wie überhaupt und ständig arabisch oder türkisch aussehende junge Männer von den „Ordnungskräften“ nächtens aus dem Weichbild der Städte herausgegriffen und gedemütigt werden.

Der edelste Teil

Dem Staat, dieses „kälteste aller kalten Ungeheuer“ (Nietzsche), hielten die Tribunal-Teilnehmer die Utopie der „sans papiers“ entgegen: „No Borders – No Nations“. Tatsächlich gab es eine Zeit – bis zum Ersten Weltkrieg –, da man sich ohne Papiere in Europa frei bewegen konnte, der Exilant Stefan Zweig hat daran oft und gerne erinnert. Während des Zweiten Weltkriegs konstatierte Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“: „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandekommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals.“ In der 68er-Bewegung unterschied man zwischen „politischen“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ – nur den ersteren wollte die Linke „Asylrecht“ erkämpfen. „I pitty the poor immigrants,“ sang Bob Dylan. Und nun heißt es: „Die Fackel der Befreiung ist von den sesshaften Kulturen an unbehauste, dezentrierte, exilische Energien weitergereicht worden, deren Inkarnation der Migrant ist.“ So sagte es der Exilpalästinenser Edward Said. Für den englischen Publizisten Neal Ascherson sind die „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen zu Subjekten der Geschichte“ geworden. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluss: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte.“

Und da war sie nun, diese Agora: in der Mitte des Mariannenplatzes. Dort hatten die Migranten ein Podium aufgebaut und ringsum Holzwände mit Fotos aufgestellt, die ihre Situation in den von Hunger, Arbeitslosigkeit und Bürgerkrieg heimgesuchten „Herkunftsländern“ und ihre deprimierende Unterbringung in den hiesigen Flüchtlingslagern zeigte. Besonders übel war eines, in dessen Eingang die Heimverwaltung ein großes Transparent gehängt hatte, mit der Aufschrift: „Herzlich willkommen“. Den Rednern auf dem Tribunal zuzuhören war anstrengend: Sie sprachen zwar „loud and clear“, aber alles musste in mehrere Sprachen übersetzt werden. Über die drei Tage kamen einige tausend „Sympathisanten“ und „Asylanten“, dennoch waren zur selben Zeit immer nur wenig mehr als 100 Leute auf dieser Agora. Bei ihrem Dauercamp waren zuvor sogar Stimmen laut geworden, die wieder „ihren“ alten, „sauberen“ Oranienplatz verlangten, die Migranten mithin weghaben wollten: zurück in ihre unsichtbaren Aufnahmelager.

Seit einigen Tagen gibt es jedoch ganz in der Nähe, am Kottbusser Tor, ein weiteres Dauercamp: von Sympathisanten der Aufständischen in Istanbul, gleich neben der schon fest etablierten Dauerwache der Mieterinitiative „Kotti & Co“, die für ein „Residenzrecht“ der Einkommensschwachen in den von Gentrifizierung bedrohten Innenstadtvierteln kämpft. Hier wurde dieser Tage die halbe Nacht lang diskutiert, am türkischen Dauercamp dagegen getanzt. Zwischen Mariannenplatz, Oranienplatz und Kottbusser Tor wurde und wird also den Touristen schwer was geboten. Schwere Kost, aber dafür waren die meist jungen Euro-Fighter ja auch extra nach Berlin geflogen.

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