Protest in Ägypten: Tahrir wieder gut besucht
Hunderttausende Ägypter protestierten in der Nacht gegen Mursis Machtausweitung. Es kam zu Zusammenstößen, ein Mann starb, Hunderte wurden verletzt.
KAIRO dapd | Bei der größten Massendemonstration in Ägypten seit dem Sturz von Expräsident Husni Mubarak haben mehr als 200.000 Menschen den Rücktritt von dessen Nachfolger Mohammed Mursi gefordert. Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo setzten am Dienstag gegen Mursi die gleichen Sprechchöre wie einst gegen Mubarak ein und skandierten unter anderem: „Das Volk will das Regime stürzen!“. Der Tahrir-Platz war die Wiege der Revolution gegen den 2011 gestürzten Mubarak.
Während sich weitere Demonstrationszüge auf den Weg machten, kam es auf einer Zufahrtsstraße zur US-Botschaft zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Hunderte Jugendliche warfen mit Steinen, Bereitschaftspolizisten reagierten mit dem Einsatz von Tränengas. Zuvor hatte die Muslimbruderschaft, der auch Mursi angehört, nach Zusammenstößen eine eigene Großkundgebung abgesagt.
Ein 56-jähriger Gegner des Staatschefs sei in Kairo an von der Polizei abgefeuertem Tränengas erstickt, berichteten am Dienstag übereinstimmend Protestierende und Ärzte. Der Mann habe sich in einem von seiner linken Volksallianz aufgestellten Zelt in der Nähe der US-Botschaft aufgehalten.
Die Demonstration auf dem Tahrir-Platz gilt als Nagelprobe, ob die Opposition die Straße hinter sich bringt und eine Protestbewegung gegen Mursi aufrechterhalten kann. Der Widerstand gegen die Dekrete des Präsidenten, mit denen er sich in der vergangenen Woche praktisch jeder Kontrolle durch die Justiz entzog, hat die zersplitterte und planlose liberale Opposition bereits näher zusammenrücken lassen. Kritiker fürchten, dass die bei den Wahlen siegreichen Muslimbrüder ihr Machtmonopol festigen.
„Die Bruderschaft hat das Land gestohlen“, lautete die Parole auf einem neuen Protestbanner auf dem Tahrir-Platz, wo seit Tagen schon hunderte Mursi-Gegner im Sitzstreik ausharren. „Die Bruderschaft hat die Revolution gekapert“, erklärte auch ein Demonstrant, der zum Platz unterwegs war. Mursis Fehler habe die Leute wachgerüttelt. Auch tausende Anwälte sammelten sich vor ihrem Gewerkschaftsgebäude zu einem Demonstrationszug zum Tahrir-Platz.
Tausende Pro und Contra
Vor dem Gerichtsgebäude in Alexandria protestierten rund 3.000 Menschen gegen Mursi, in Assiut demonstrierten dagegen nach Augenzeugenberichten etwa 5.000 Anhänger des Präsidenten. Das Mursi-Lager sagte eine für Dienstag geplante Großkundgebung ab, um nach etlichen Zusammenstößen „die Spannung zu entschärfen“, wie es hieß.
In der 18-Millionen-Stadt Kairo herrschte am Dienstag ungewöhnlich wenig Verkehr, viele Geschäfte und Behörden hatten in Erwartung möglicher Auseinandersetzungen früher geschlossen. Die Polizei verstärkte ihre Sicherheitsvorkehrungen und kontrollierte auf dem Weg ins Stadtzentrum Autos und Ausweise. Es gab aber keine Anzeichen dafür, dass Menschen daran gehindert wurden, auf den Tahrir-Platz zu gelangen.
Am Abend kam es auch andernorts zu gewaltsamen Zusammenstößen. In der Industriestadt Mahalla el Kobra versuchten Arbeiter und Aktivisten, das örtliche Hauptquartier der Muslimbruderschaft zu stürmen. Mitglieder der Muslimbruderschaft formten jedoch eine Menschenkette um das Gebäude und stellten sich den Demonstranten in den Weg. Beide Seiten bewarfen sich mit Steinen und Brandbomben, die Polizei setzte Tränengas ein. Nach Behördenangaben wurden mindestens 100 Menschen verletzt.
Clinton telefoniert mit Amr
Derweil erhöhte das Ausland den Druck auf Mursi. US-Außenministerin Hillary Clinton übermittelte ihrem ägyptischen Kollegen Mohammed Kamel Amr am Telefon laut einer Sprecherin die „Sorge der USA über die politische Situation in Ägypten“. Washington wünsche eine Entwicklung, bei der die Macht nicht zu stark in einer Hand konzentriert sei und die Gewaltenteilung gewahrt bleibe.
Mursi argumentiert, er habe mit den Dekreten seine Befugnisse nicht überschritten. Der islamistische Präsident hatte am vergangenen Donnerstag verfügt, dass seine Anordnungen nicht mehr anfechtbar sind. Kritiker sehen darin eine Entmachtung des Justizsystems und eine gefährliche Konzentration der Macht. Für Freitag hat die Opposition erneut zu Massenprotesten aufgerufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland