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Protest gegen ESC-ErgebnisHinterher kommt der Zorn

Eine Petition verlangt von der ESC-Leitung, die Regeln zur Abstimmung zu ändern. Die Unzufriedenheit mit der ukrainischen Gewinnerin ist groß.

War ihr Sieg in Wahrheit eine riesige Ungerechtigkeit? Jamala, nachdem sie den ESC gewann Foto: reuters

Berlin taz | Beim Eurovision Song Contest gibt es Jahr für Jahr, seit 1956, einen Siegenden, bis auf 1969, da gab es wegen unklarer Regeln gleich vier. Was aber seither eher das bestimmende Moment aller Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie der europäische Popwettbewerb in Deutschland früher hieß, ist, dass nach einem ESC alle, bis auf das Siegerland, zutiefst unzufrieden sind.

Das hat vor allem in den sechziger Jahren der Hessische Rundfunk, damals für den ESC in der ARD verantwortlich, zu spüren bekommen: Zuschauerpost körbeweise – und die allermeisten beschwerten sich, dass der deutsche Beitrag mal wieder von den anderen Ländern und ihre Jurys überhört wurde und nur selten Punkte erhielt.

Nebenbei: Der sprachliche Duktus dieser Briefe erinnert bizarr an die Sprechweisen von Antieuropäern heute: Schluss mit dem Gejaule!, Wer soll denn all die Sprachen verstehen!, Kulturschund schlimmster!, Die Deutschen werden mal wieder für unsere Vergangenheit bestraft … Schuld sind immer die anderen (gewesen).

Das ist dieses Jahr nicht anders, der Zorn über das Resultat gehört offenbar zum Spiel. Wobei die verschwörungstheoretische Musik nicht in Deutschland angestimmt wird. Eine change.org-Petition wurde bereits von einer halben Million Menschen unterzeichnet, und sie fordert, dass das Abstimmungsverfahren, weil es in Stockholm am Samstag zu falschen Ergebnissen geführt haben soll, geändert wird. Hintergrund: Dieses Jahr beim 61. ESC gab es erstmals zwei getrennte, gleich gültige Wertungen: die der Jurys (Menschen aus dem musik-industriellen Komplex) und die der Zuschauer in den 42 beteiligten Ländern.

ESC-Abstimmung

Neu: Seit 2009 werden die ESC-Wertungen der jeweils teilnehmenden Länder aus den Juryurteilen und den SMS, App-Kontakten und Anrufen der Zuschauer (Televoting) ermittelt. Die Jurys werden grundsätzlich nur mit Angehörigen des musikalisch-industriellen Komplexes (Produzent*innen, Musiker*innen, Promoter*innen) besetzt; diese dürfen aber nicht in beruflicher Abhängigkeit zu irgendeinem der ESC-Künstler*innen stehen.

Weil: Auf die Wiedereinführung der Jurys drangen besonders die Deutschen (Stefan Raab!), weil sie glaubten, durch professionelle Wertungsgerichte gäbe es weniger Blockvoting (Skandinavien, Postjugoslawien und Postsowjetunion schieben sich gegenseitig unabhängig von der Güte eines Liedes viele Punkte zu). 2008 hatte der Russe Dima Bilan gewonnen – man unterstellte diesem ersten russischen ESC-Sieg, er sei durch alte politische Abhängigkeit zustande gekommen.

Aber: Allen Verschwörungstheorien zum Trotz hat es stets Länder- und Nachbarschaftsvotings gegeben, aber nicht in der unterstellten Stärke. Geäußert wurden und werden solche Annahmen stets aus Ländern, die mit dem Ergebnis ihres Acts nicht zufrieden sind.

Und: Seit diesem Jahr wird diese Mischwertung gesondert gerechnet: Es gab am Samstag ein Juryergebnis (das Australiens Dami Im mit 320 Punkten vor Jamala mit 211 Zählern mit gewann, Sergej Lazarev wurde bei den Profis Fünfter mit 130 Punkten); beim Televoting gewann der Russe (361) vor Jamala (321) aus der Ukraine. In der Addition lag am Ende die „1944“-Künstlerin (534) vor Dami Im (511) und Sergej Lazarev (491). Dieser erhielt am häufigsten die vollen 12 Punkte aus den anderen 41 Ländern, auch aus Deutschland.

Siegerin der Jurys war die Australierin Dami Im mit ihrem Titel „Sounds Of Silence“, beim Publikumsvoting hingegen gewann der Russe Sergej Lazarev – aber am Ende lagen sie beide nicht in der Mixtur beider Wertungen vorne, sondern die Ukrainerin Jamala. Die 31jährige, die mit dem politischen Lied „1944“ triumphierte, lag in beiden Wertungsbereichen auf dem zweiten Platz. Gemischt ergab das jedoch den Sieg.

Das wiederum empörte (nicht allein, aber zuerst) russische Medien. Lasst die Zuschauer entscheiden, so die Linie der Berichterstattung. Tatsächlich hat Sergej Lazarev offenbar die Herzen der Mainstream-Radiohörer*innen Europas am stärksten erhalten, die Australierin nicht minder offensichtlich die der Jurys, die in ihrem Lied etwas Orginelles entdeckten, nicht jedoch im Act des Russen, dessen Show krass an den Maßstäben des Vorjahressieger angelehnt war.

Die European Broadcasting Union in Genf, Zentrale des öffentlich-rechtlichen TV-Netzwerks, das den ESC veranstaltet, reagierte nun auf change.org-Petition mit kühlen Worten: „Der Eurovision Song Contest ist ein Wettbewerb, bei dem es nur einen Sieger geben kann. Wir verstehen, dass nicht jeder mit dem Ergebnis einverstanden ist.“ Aber das Ergebnis gleibe gültig, es sei rechtlich ohne Beanstandung geprüft und werde nicht annulliert.

Einladung auf die annektierte Krim

In der Ukraine haben derweil die Debatten um den nächsten Austragungsort begonnen. Für den 62. ESC bewerben sich: Odessa, Lviv und vor allem Kiew – im dortigen Olympiastadion. Nach allen ersten Gerüchten soll die eurovisionäre Welcome Party mit 10.000 Menschen aus den Eurovisionsländern auf dem Maidan gegeben werden.

Jamala sagte in Kiew auf einer Pressekonferenz: „Mein erster Platz ist zu 100 Prozent ein Triumph der Musik.“ Und lobte zugleich den den russischen Beitrag „You Are The Only One“ von Sänger Sergej Lazarev. „Er hatte sich gut vorbereitet und eine starke Nummer“, sagte Jamala. Beide hätten sich in Stockholm gegenseitig Glück gewünscht.

Eine aktuelle Einladung auf die von Russland annektierte Krim werde sie schon aus Zeitgründen nicht annehmen, sagte ihr Manager Igor Tarnopolski. Die moskautreue Führung der Halbinsel hatte Jamala gebeten, an diesem Mittwoch bei einer Veranstaltung zu singen. Ein Mitglied der Verwaltung der Krim hatte die Künstlerin aufgefordert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Dies lehnte Jamala ab. „Ich habe die ukrainische Staatsbürgerschaft, eine andere ist nicht notwendig.“

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