piwik no script img

Protest gegen AKW-LaufzeitAlter Meiler, rostige Rohre

Umweltschützer fordern, dass das AKW Emsland abgeschaltet wird. Bei Revisionen wurden Rohrschäden entdeckt. Eine erneute Prüfung bleibt dennoch aus.

Gehört zu den letzten Atomkraftwerken, die in Deutschland abgeschaltet werden: AKW Emsland Foto: Jürgen Ritter/Imago

Göttingen taz | Eigentlich soll das Atomkraftwerk Emsland bei Lingen erst Ende 2022 abgeschaltet werden – als eines der drei letzten deutschen AKW. Doch Umweltschützer drängen auf eine sofortige Stilllegung des Meilers, der mit einer Brutto-Leistung von rund 1.400 Megawatt einer der größten in der Bundesrepublik ist. Das AKW weise gefährliche Risse an den Dampferzeugerrohren auf, die auf Korrosionsprozesse zurückzuführen seien, begründet der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) den Vorstoß.

Die Dampferzeugerheizrohre bilden die Schnittstelle zwischen dem radioaktiven Primär- und dem Sekundärkreislauf eines Atomkraftwerks. In ihnen herrschen sehr hohe Temperaturen und Druckunterschiede. Die Rohre bestehen aus einer Metall-Legierung, die besonders beständig gegen Korrosion ist.

Alterungs- und chemische Prozesse in dem mehr als 30 Jahre alten AKW haben jedoch nach Angaben von Fachleuten in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Rohre trotzdem rosten. Ähnliche, teils sogar noch schwerer wiegende Befunde, gibt es auch im AKW Neckarwestheim in Baden-Württemberg.

Im AKW Emsland waren während der Revisionen 2019 und 2020 mehrere Rohre entdeckt worden, an denen Lochfraß und Spannungsrisskorrosion die Rohrwände geschwächt haben. Bei der diesjährigen Revision habe der Betreiber, die RWE Power AG, auf eine neuerliche Prüfung der Heizrohre verzichtet, bemängelt der niedersächsische BUND-Landesvorsitzende Heiner Baumgarten. Das Werk war laut RWE Ende April sechs Wochen lang für den letztmaligen Wechsel von 52 Brennelementen und Wartungsarbeiten heruntergefahren worden.

Der BUND sieht Niedersachsen in der Pflicht

Das Niedersächsische Umweltministerium hat bestätigt, dass während der Revision 2021 keine Dampferzeugerheizrohre geprüft wurden. Der Bundestagsabgeordnete der Linken, Hubertus Zdebel, bezeichnete die Antworten der Bundesregierung auf eine entsprechende Nachfrage zu nicht erfolgten Prüfungen als „besorgniserregend“. RWE selbst ließ eine Anfrage der taz zu den Vorgängen unbeantwortet.

Der BUND sieht neben dem Energiekonzern nun auch das Land Niedersachsen in der Pflicht. Das Umweltministerium als zuständige Aufsichtsbehörde müsse das Atomkraftwerk sofort vom Netz nehmen und alle Dampferzeugerheizrohre umgehend auf Schäden überprüfen, verlangt Baumgarten. Er verweist darauf, dass in Neckarwestheim die Behörden nach dem Auftreten von Rissen eine jährliche Überprüfung aller Rohre angewiesen haben. Diese Sicherheitsvorgaben müssten auch für Lingen gelten.

„Wenn sich im laufenden Betrieb ein Riss ausweitet und ein Rohr platzt und abreißt, kann dies gravierende Folgen haben“, sagt Bernd Redecker vom BUND. Im schlimmsten Fall könnten große Mengen an Radioaktivität freigesetzt werden. Sogar eine Kernschmelze sei dann möglich: „Dieses Risiko einzugehen, um Kosten für Wartungen einzusparen oder einen Betriebsausfall zu verhindern, ist völlig inakzeptabel.“

Das AKW Emsland stellt indes nur einen Teil dessen dar, was örtliche Bürgerinitiative als „Atomstadt Lingen“ bezeichnen und kritisieren. Das Atomkraftwerk wurde als Ersatz für das 1977 stillgelegte AKW Lingen geplant und Anfang der 1980er-Jahre gebaut. Der Reaktor wurde im April 1988 zum ersten Mal kritisch und nahm am 20. Juni 1988 den kommerziellen Betrieb auf. Für das alte AKW Lingen läuft zurzeit das Genehmigungsverfahren für den Abriss.

Seit dem Dezember 2002 ist auf dem Gelände des AKW Emsland ein Standortzwischenlager für hochradioaktiven Müll in Betrieb. Hier werden abgebrannte Brennelemente in Castor-Behältern gebunkert. Das Zwischenlager hat eine Kapazität für 130 Behälter. Wann die Castoren in ein späteres Endlager abtransportiert werden, steht in den Sternen.

Brennelemente von Lingen in die Welt

Eine unbefristete Betriebsgenehmigung – und damit ist sie ebenso vom Atomausstieg ausgenommen wie die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau – hat die Lingener Brennelementefa­brik. Sie verarbeitet angereichertes Uran und beliefert AKWs im In- und Ausland mit frischem „Brennstoff“. Auch skandalträchtige Pannen-Meiler in Belgien und Frankreich, deren Stilllegung selbst die Bundesregierung fordert, erhielten oder erhalten Lieferungen aus Lingen.

Ende des letzten Jahres hatte der hessische Verwaltungsgerichtshof geurteilt, dass Brennelemente aus Lingen weiterhin auch in das wegen zahlreicher Störfälle besonders umstrittene belgische AKW Doel gebracht werden können. Die laufende Klage einer Privatperson aus Aachen habe keine aufschiebende Wirkung auf eilige Atomgeschäfte.

Betreiber der Brennelementfa­brik ist die Firma Advanced Nuclear Fuels, die dem französischen Atomkonzern Framatome gehört. Im Februar kündigte Framatome an, zusammen mit dem russischen Atomkonzern Rosatom ein Joint Venture zur Brennelementeproduktion in Lingen zu gründen. Konkret möchte Framatome 25 Prozent der Anteile an Rosatom verkaufen. Im März stimmte das Bundeskartellamt dem Vorhaben zu.

Weil es sich um ein sicherheitsrelevantes Unternehmen handelt, braucht es noch eine Genehmigung durch das Bundeswirtschaftsministerium. Diese steht noch aus, eine Entscheidung vor der Bundestagswahl ist unwahrscheinlich. Rund 80 Initiativen und Verbände aus mehreren europäischen Ländern verlangen in einer internationalen Resolution, das Brennelementewerk dauerhaft zu schließen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!