: Protest der Unvernünftigen
Ist das, was die Schill-Partei in Hamburg und demnächst auch anderswo verkörpert, rechts, gar faschistoid? Oder nur ein Reflex auf die Selbstgerechtigkeit von Sozialdemokraten und Grünen? Anmerkungen zu einem Erfolgsmodell modernen Populismus
von JAN FEDDERSEN
Der Mann saß noch längst nicht auf seinem jetzigen Posten, dem des Innensenators in Hamburg. Aber als er eine Woche vor seinem politischen Triumph in einer Talkshow des NDR zu Gast war, umringt sozusagen von den dem Publikum hinlänglich bekannten Funktionsträgern der Roten und Grünen, da war klar, dass er gewinnen würde. Er gebärdete sich nämlich wie ein neuzeitlicher Robin Hood im Wartestand, ganz gelassen, als ob mit ihm die Unwirtlichkeit der Stadt ein Ende haben werde.
Diese Gewissheit ob seines noch nicht amtlichen Erfolgs stellte sich dem Zuschauer im Übrigen vor allem an jener Stelle ein, als eine – offenkundig sozialdemokratisch inspirierte – Frau im Studiopublikum zur Anklage jenes Mannes, der die lasche Verbrechensbekämpfung der Sicherheitsbehörden der Stadt zum Wahlkampfthema gemacht hatte, nur zu sagen wusste, dass jedwede Kriminalitätsfurcht ganz unvernünftig sei, denn ausweislich ihrer Statistiken gebe es dafür keinen Grund.
Da lächelte Ronald Barnabas Schill und erwiderte gar nichts. Das musste er auch nicht, denn diese Frau, die so zahlenfest soeben die Furcht der Menschen in dieser Stadt für absurd erklärt hatte, war nichts als die Fleisch gewordene Erklärung für den Zuspruch, den einer wie Schill in Hamburg in Höhe von knapp zwanzig Prozent der Wählerstimmen bekommen sollte. Es war wahrlich keine Sensation, dass der als Reformprojekt gepriesene rot-grüne Senat im vorigen Herbst deutlich abgewählt wurde: Weshalb soll das Volk auch einer Regierung das Votum neuerlich geben, wenn sie die empfundenen Probleme einfach für irreal oder unwichtig erklärt?
Natürlich gab es vieles, das die Wähler besonders gerne von der Sozialdemokratie in Hamburg Abstand nehmen ließ: die fast identischen Personalstrukturen bei der SPD und in den Behörden, die gewisse Hausbackenheit der Führungsspitze, die Arroganz der schon Ewigregierenden. Aber vor allem war wohl dies der entscheidende Faktor, der sowohl die Roten als auch die Grünen in die Opposition schickte: dass beide sich vorwiegend, so sah es jedenfalls aus, um die prominenten Quartiere der Metropole kümmerten, die Menschen in den vergessenen, nicht so schicken, eben kleinbürgerlichen Vierteln aber signalisierten: Eure Sorgen sind nicht vordringlich.
Dass die Schulen und überhaupt kommunalen Infrastrukturen verwahrlosen, dass der öffentliche Nahverkehr immer stärker vernachlässigt wird und dass das Gefühl von Sicherheit dort nicht mehr vorhanden ist. Schill und die Seinen konnten all diese Schwächen aufgreifen, weil sie keine Scheu zeigten, zur Sache zu sprechen. Dass das multikulturelle Leben in den Vorstädten nicht so klappt, wie es sich die Politiker ausdenken; dass es an Polizeipräsenz fehlt, obwohl gerade sie außerhalb der quirligen Viertel der Innenstadt nötig wäre. Entscheidend aber war: Zwanzig Prozent stimmten diesem Furor zu, dieser Kritik an den Verhältnissen, die in den Augen der allermeisten Sozialdemokraten und Grünen ganz und gar unvernünftig ist.
Aber dieser Einwand ist selbst absurd: Die Protesthaltung (nicht nur in Hamburg), die in Zustimmung zu Parteien zum Ausdruck kommt, die mit Namen wie Ronald Barnabas Schill oder Jörg Haider oder Silvio Berlusconi oder Pim Fortuyn verbunden ist, hat mit Vernunft nur begrenzt etwas im Sinn. Die Grünen müssten die Mentalität dieser Wähler eigentlich kennen, die eigenen Anfänge speisten sich aus ähnlichen Quellen: Fordere viel bis alles, trage deine Anliegen vor, als handelten sie von letzten Dingen, und setze den politischen Gegner vor allem moralisch so unter Druck, dass man selbst immer als der ethische Saubermensch aus der politischen Debatte herausgeht.
Nach dem gleichen Schema handeln die genannten Populisten, die sich dem politisch korrekten Establishment nicht verbunden fühlen, im Gegenteil es beschimpfen, weil nur auf diese Weise ihnen überhaupt Erfolg möglich ist. Was auch immer Schill vor der Hamburger Bürgerschaftswahl seinen Wählern versprochen hatte: Er hat es nicht halten können. Ob er das vorher wusste oder nicht, spielt gar keine Rolle. Der Wähler wird ohnehin, ganz bei Trost, nicht darauf spekuliert haben, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen. Dass Hamburg nicht sicherer wurde, ist für diesen Zusammenhang unerheblich: Wichtig bleibt lediglich, dass das Thema „Innere Sicherheit“ auf Gehör stößt und nicht mit dem Argument, es sei gar keines, zur Seite geschoben wird.
Alle Wahlanalysen wiesen im Übrigen den Befund auf, dass die genannten Populisten von ihren Wählern zwar als rechts, konservativ oder nichtgrün wahrgenommen werden, aber keinesfalls als völkisch, neonazihaft oder faschistisch. Was sie aber eint, beispielsweise mit dem Gros der DVU-Wähler in Sachsen-Anhalt, die dort bei den Landtagswahlen vor vier Jahren ein ähnlich gutes Ergebnis wie die Schill-Partei in Hamburg erzielen konnte, ist eine Mentalität, in der sich politische Resignation und alltagsweltliche Nervosität mischen – gekrönt von einer tief empfundenen Antipathie dem Fremden gegenüber: Was hinter meinem Horizont geschieht, soll geschehen, wie es will, aber bitte nicht vor meiner Haustür!
Die Politik hat aus deren Sicht wenig zu bieten, was dieser Furcht vor den Territorien hinter dem eigenen Gartenzaun wenigstens ein bisschen abhilft: in Sachsen-Anhalt nicht genügend Arbeitsplätze. Und in der Hauptstadt wird über Themen diskutiert, die diese Ängste eher verstärken beziehungsweise Desinteresse an den praktischen Problemen signalisieren, das Zuwanderungsgesetz, die Ökosteuer, die Homoehe – also Angelegenheiten von Minoritäten oder Vorgänge, die das Leben nur verteuern.
Obendrein findet der auf Populisten reagierende Wähler auf der anderen Seite Belege für seinen Glauben, dass in der Politik kaum etwas mit rechten Dingen zugehe: der Korruptionsskandal der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen paart sich auf diese Weise glänzend mit der Spendenaffäre der Union. Dass diese Affären, diese Skandale komplizierter zu bewerten sind, ist unwichtig: Der Wähler populistisch anmutender Politikideen möchte sich nicht belehren lassen, dass er weniger filigran denkt, als seine Politiker es gerne hätten.
Er neigt zur Raserei auf Autobahnen und zum Gebrauch der Lichthupe. Er will Tabula Rasa, wo die Suche nach der Balance zwischen Interessen gesucht werden muss. Er nimmt Union wie Sozialdemokratie als mehr oder weniger austauschbar wahr, weil er weiß, dass deren Sprüche vor der Wahl nach ihr nur noch die halbe Münze bedeuten: Der gewöhnliche Vorgang des Interessenausgleichs wird als Versagen des Systems schlechthin genommen. Und er hat die Vorstellung, vom Leben (und von der Politik) betrogen zu werden. Er kennt keine Ruhe, weil es für ihn keinen Anlass gibt, den Stillstand zu genießen. Ideen der Kontemplation und der Askese sind ihm fremd, weil er am liebsten mal ein Leben in Völlerei hätte: Dass ein maßloses Leben keine guten Gefühle hinterlässt, weiß er nicht, denn er hat diese Erfahrungen nicht sammeln können. Ihm ist überhaupt das Leben zu kompliziert und ansprüchlich, der Überblick ging längst verloren. Was er weiß, ist, dass die Umstände, unter denen er lebt, nicht günstig sind – die Städte sind ihm eine Qual und die Umgangsformen der Schicken und Schönen fremd; die Provinz ist zwar vertraut, aber langweilig schließlich dennoch; die Jobs, die er bekommen könnte, bringen kaum Geld, und die Lust, in ihnen zu arbeiten, ist gering, weil sie gehirntötend sind. Das Leben, das er aus dem Fernsehen kennt, das von smarten, geschmackvollen, informierten und ökologisch aufgeklärten Menschen, das macht ihm Angst, weil es einen Habitus verlangt, den er nicht erlangen wird.
Eben dies ist auch der Grund, weshalb die Grünen nie mehr als eine Splitterpartei werden konnten: Ihre Attitüde wirkt strikt gymnasial, besserwisserisch, pädagogisch gewiss wertvoll, aber genau deshalb auch unerwünscht. Schill-Wähler kümmern sich einen Dreck um Globalisierung, weil deren Kritiker die gleiche akademische Erzogenheit ausstrahlen, dieselbe Liebe zum Vernünftigen und Hochkomplexen wie die Grünen.
Einzig die Sozialdemokraten hätten es drauf, eben diese Wählerschichten an sich zu binden. Können es aber nicht mehr, weil es unter ihnen kaum noch Politikerfiguren gibt, die sich von der Strickart der Grünen unterscheiden: Das Erbe Björn Engholms (Connaisseur in Sachen Pfeifentabak, Wandschmuck und Rotwein) dominiert – allem Gerhard Schröder (der sich, so strahlt er aus, eher bei Bier, Fußball und Frauen zu Hause fühlt) zum Trotz – diese Partei. Die gerade noch die Gewerkschaften an sich binden kann – aber eben nicht mehr die am Arbeitsmarkt überflüssig Gewordenen, die Erniedrigten, die Beleidigten, die Schrebergärtner-nach-Feierabend und Autowäscher-am-Samstag, die Regale-im-Supermarkt-Einräumerinnen und Hausfrauen mit Zeitungsausträgerjobs, kurz: die KleinbürgerInnen mit dem Wunsch nach Ruhe & Ordnung.
Aber nicht sie allein zählen zur Sympathisantenschar der Schills & Co. Zugleich sind es, wie in den Niederlanden des Pim Fortuyn, die berufstätigen Frauen, die sich nachts nicht mehr durch so genannte multikulturelle Viertel zu gehen trauen, die Schwulen, die diese Quartiere ebenfalls meiden, die Armen, die allen Arbeitssuchmaßnahmen zum Hohn mit ihren drei Dritteljobs nicht über die Runden kommen, die Eltern, die mit der Ausstattung der Schulen nicht einverstanden sind, weil gerade bei der Bildung ihnen, anders als den Wohlhabenden, nicht das Privileg gegeben ist, den Nachwuchs auf Internate schicken können.
Fortuyn, apropos, war es, der unumwunden – und europaweit erstmals – artikuliert hat, dass er als Homosexueller eine Politik der Integration und Assimilitation befürworte – von Multikulturalität jedoch gar nichts halte: Der Islam, so seine schlichte wie unbestreitbare Wahrheit, kenne keinen liberalen Umgang mit Männern wie ihm und dürfe deshalb in seinem Land keinen Einfluss erlangen und die Freizügigkeit der Lebensformen behindern.
Alles in allem wird dieser Populismus, gegen den die Linke (zum Beispiel in Italien, in Österreich, den Niederlanden und bald auch Deutschland) sehr alt aussieht, vermutlich erfolgreich sein. In seinem Pragmatismus mag auch ein Stück Anziehungskraft für völkische Wünsche liegen, rechtsradikal ist er, nach allem, was bekannt ist, nicht.
Von ihm ist nichts zu erwarten, was der erweiterten rot-grünen Programmatik im Groben widerspräche: nichts gegen Ganztagsschulen, berufstätige Frauen, gegen Aids-Beratungsstellen, Hilfsprogramme für Drogenabhängige oder gegen die Homoehe. Deren Politikidee geht aber darüber hinaus. Gewiss mehr Recht und Ordnung, öffentlichkeitswirksamere Strafen gegen Drogendealer, Vergewaltiger und Randalierer. Was diesen Populismus von der Sozialdemokratie unterscheidet (und der altbackenen Erregung der Union), ist die fehlende Selbstgerechtigkeit – die dem Umstand geschuldet ist, dass, beispielsweise, einer wie Ronald Barnabas Schill sich nach einem halben Jahr Regierungspraxis noch halbwegs als die verfolgende Unschuld gerieren kann.
Der Rest ist im Übrigen eine Frage der Integration: Haben sie regiert, haben sie die Sehnsucht ihrer unvernünftigen Wähler erst einmal enttäuscht, sind auch diese ein Stück weit mit dem System versöhnt. Die Praxis macht alle Träume kaputt und lässt von ihnen immer nur eine Idee übrig. Auch ein Haider bindet ein, ebenso ein Berlusconi. Was sie erfolgreich macht, ist auch die Schwäche, die Blindheit der Linken und Liberalen. Sie, die Repräsentanten der Unvernünftigen, können abgewählt werden. Deren Opposition muss nur wissen, weshalb. Gründe des Geschmacks zählen nicht.
JAN FEDDERSEN, 44, ist taz.mag-Redakteur
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