Profi-Protest gegen "Stuttgart 21": Groß der Bagger, größer die Inbrunst
Der Widerstand wird zum Protest auf professioneller Basis, gut vernetzt in Stuttgarts Bürgerschaft. Allein die SPD versteht immer noch nur Bahnhof.
STUTTGART taz | Der Ort für die Liveschalte ist gut gewählt. Nordflügel Hauptbahnhof, großer Bagger, großes Loch, die Weihestätte des Widerstands. Frontmann Walter Sittler steht auf einem Podest und spricht in die Sendung von Sandra Maischberger hinein, wobei nicht zu verstehen ist, was er sagt, weil wieder Tausende lärmen. Aber man darf vermuten, dass er das Böse der Politik und das Gute des Protests hervorgehoben hat. Normalerweise sagt er, bei "Stuttgart 21" erinnere er sich an "Berlusconi und seine Hintermänner".
Das ist so falsch nicht, aber es schmerzt diejenigen, die wider Erwarten mit einer Bananenrepublik in Verbindung gebracht werden. Die offiziellen Demokraten. Sehr empört zeigte sich beispielsweise der Präsident des Stuttgarter Landtags, Peter Straub, ein sonst eher zurückhaltender Verfechter der Demokratie. Das sei, meinte der Christdemokrat, eine "unglaubliche Diffamierung". Zuvor war er eigentlich nur durch seine eifrigen Bemühungen aufgefallen, einen Porsche Panamera als Dienstwagen zu erhalten, was ihm leider, trotz energischer Rabattgespräche, nicht gelungen ist.
Ein Wort: Lügenpack
Es ist eine der vielen kleinen Geschichten, die bei den Schwaben den Verdacht haben aufkommen lassen, dass sie beschissen werden, und deren Summe sie zur Gewissheit getrieben hat, dass es dafür nur noch ein Wort gibt, das sie auf ihre Transparente schreiben müssen: Lügenpack.
Nun sind die Vertreter dieses Volksstamms, trotz Bundschuh (1493), Wyhl (1974), Mutlangen (1983) und Boxberg (1985), eher bedächtige Zeitgenossen, die nicht zur Renitenz neigen. Bis es an die Ehre geht, oder wenn sie, wie es der schwäbische FAZ-Feuilletonist Gerhard Stadelmaier beim Besuch im Mineralbad Leuze ermittelt hat, den schrecklichen Eindruck haben: "Mir zählet nix." Dagegen wächst in keiner Werbeagentur ein Kraut, aber genau das ist die Basis des Protests.
Darauf kann Matthias von Herrmann aufbauen. Der 37-Jährige ist Sprecher der Parkschützer und ein so ordentlicher Mensch, dass er glatt hinter einem Bankschalter Platz nehmen könnte. Sohn eines Professors, Studium der Politik, VWL und Chemie, akkurater Haarschnitt, randlose Brille, Jackett. Aber auch acht Jahre Greenpeace, in denen er gelernt hat, wie ziviler Ungehorsam funktioniert. Herrmann gehört zu jener Generation von Aktivisten, die keine Flugblätter mehr am Werkstor verteilen müssen.
Sie agitieren via SMS, Smartphone, Facebook, Twitter, YouTube. Und dafür ist in der Technikmetropole genügend Fachpersonal vorhanden. Support kriegt er von IT-Experten, die ihr Geld bei Daimler, Bosch und Porsche verdienen, womit die These, dass es sich bei den Gegnern um Modernisierungsfeinde handelt, eindrucksvoll belegt ist. Man könnte auch sagen, der Aufstand findet auf professioneller Grundlage statt.
Herrmann sagt, inzwischen seien sie in der Lage, nachts um eins tausend Leute an den Bahnhof zu rufen. Demo on demand, wenn man so will. Das geht mit SMS-Alarm, und wer sich das lieber vom Bett aus anguckt, klickt Spiegel-Online an, wo er die verlinkte Webcam findet, die ihm Bilder in Echtzeit liefert. Nun ist die Technik das eine, der Mensch das andere. Natürlich ist zunächst verblüffend, wenn in Stuttgart 60.000 Menschen auf die Straße gehen.
Wann hat es das je gegeben? Und es werden nicht weniger. Im Gegenteil. Doch schon beim zweiten Blick wird deutlich, warum das so ist: "Stuttgart 21" ist das Symbol einer als zutiefst undemokratisch empfundenen Gesellschaft. Das ist an sich nichts Neues, für jeden erfahrbar, der am Bauzaun steht, die Botschaften der Bürger liest und dann auf die Ruine des Nordflügels schaut. Und für jeden ist etwas dabei.
Auch für den früheren Leiter eines Lehrerseminars, der den Referendaren im Auftrag Gerhard Mayer-Vorfelders (damals Kultusminister) die Hammelbeine stramm gezogen hat. Heute umarmt der 79-jährige Rotarier den Grünen Winfried Hermann vor der Mahnwache, wo er Dienst schiebt. Im Auftrag der Demokratie, wie er betont.
Die Gegner müssen im Grunde nur Kärtchen ziehen, auf die sie Grube, Mappus, Schuster oder Drexler schreiben. Und schon hat jeder ein Bild vor sich, auf das er alles malen kann, was ihn seit langem umtreibt. Der Bahnchef steht für Brutalität, der Ministerpräsident für Machtgeilheit, der Oberbürgermeister für Autismus und der Projektsprecher für alles zusammen, weil er für alle sprechen muss.
Alles Weitere ist dann eine Frage des persönlichen Blickwinkels. Für den einen ist es brutal, Mauern einzureißen und 200 Jahre alte Bäume abzusägen. Für den anderen ist es machtgeil, die Milliardenkosten und den Wähler zu manipulieren. Für den Dritten ist es autistisch, das Mantra "unumkehrbar" vor sich her zu tragen und sich in Chile zu verstecken, und für alle ist das Grundgefühl unerträglich, unter Niveau betrogen zu werden.
Ziel: Bahnhoferhalt
Zusammengehalten wird das Einzelne, das auch Fledermausschützer einschließt, von einem gemeinsamen Ziel: dem Erhalt des Bahnhofs. Das mag merkwürdig erscheinen, ist es aber nicht, weil der angenagte Bonatz-Bau das in Stein gehauene Sinnbild für Zerstörung ist. An ihm macht sich zum einen die Angst der Bürger fest, ihre Stadt, ihren Nahraum zu verlieren, zum anderen die Hoffnung, es jenen zeigen zu können, die diese Stadt immer als ihr Eigentum betrachtet haben: die CDU und die mit ihr verbandelten Wirtschaftskreise. Dass dagegen anzukämpfen schwer ist, wissen sie, aber warum nicht Che Guevara an den Bauzaun hängen und ihn sagen lassen: "Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche."
Fehlt nur noch die SPD, die Partei des Widerstands gegen den Widerstand. Sie hat das Kunststück fertiggebracht, sich an die Spitze des Prestigeprojekts zu setzen, ihren früheren Fraktionschef Wolfgang Drexler zum "S 21"-Herold werden zu lassen, und sie muss jetzt erkennen, dass sie damit pfeilgerade in ein Wahldesaster rennt. Da mag ihr prominentes Mitglied Edzard Reuter über so viel "Bescheuertheit" den Kopf schütteln, sich in einem "Stuttgarter Appell", zusammen mit Sternekoch Vincent Klink und Theaterhauschef Werner Schretzmeier für einen Baustopp und einen Bürgerentscheid einsetzen - das ficht die Spitzengenossen in Stuttgart nicht an. Angeblich lockt bereits das Angebot der Union, im März 2011 eine große Koalition der Verlierer zu bilden.
Kann sein, dass jetzt der Beton in den Sozi-Köpfen etwas aufweicht. Der SPD-Linke und "S 21"-Gegner Hermann Scheer hat einen Mann in Stellung gebracht, der bei der baden-württembergischen SPD noch immer Kultstatus hat: Erhard Eppler, das Gewissen der Partei. Der 83 Jahre alte, langjährige Landesvorsitzende, wirbt in einem öffentlichen Appell ("Die Spaltung überwinden") für ein Moratorium und eine Bürgerbefragung. Eppler sorgt sich um den Frieden in der Stadt - und die Partei, die er vor dem "Zerbröseln" (Scheer) bewahren will. Man darf gespannt sein, wie die Genossen darauf reagieren. Drexlers fulminante PR-Strategie ("Die guten Argumente überwiegen") wird als Antwort nicht reichen - das dämmert jetzt offenbar auch seiner Partei.
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