Pro & Kontra Winke Winke bei der WM: Hochnotpeinlich oder große Geste?
Kaum sehen sich die Fans in den WM-Stadien auf den Monitoren, winken sie in die Kamera. Bescheuert oder gut so?
PRO: „Zeig mir, wie du winkst und ich sage dir, wer du bist“
Die schönsten Fans sind die, die winken. Die, die das nicht tun, wirken unwillkürlich arrogant. Freilich gibt es Stars und hässliche Entlein unter den Winke-Winkes: wunderschön geschwungene, wild paddelnde, kleinkreisend verlegene, jahrelang einstudierte oder mit spontaner Überwältigung wedelnde, von offenen Mündern und gekonntem Augenzwinkern flankiert. Allen gemeinsam ist, dass sie keinen fußballerischen Anlass haben. Sie sind Gesten des Zurücksehens.
Kein steiles Tor, kein Wunderpass ist nötig, um zu winken. Kein gerade laufendes Elfmeterschießen hält die Fans davon ab, es wieder und wieder zu tun, wenn sie gesehen werden. Beziehungsweise, wenn sie sehen, dass sie gesehen werden. Und daran ist nichts schlimm. Ob man nun von einer Person oder von Millionen Zuschauern gesehen wird, es ist nur freundlich und toll, dem Sehenden diese kleine Geste des Zurücksehens zu schenken.
Ein Mal im Leben der ganzen Welt aus purer Freude zuzuwinken und mit der offenen Handfläche zeigen, dass man in friedlicher Absicht ohne Waffen in den Händen gekommen ist. Das Winken ist eine Geste, die aus dem Alltag fast verflogen ist. Nur noch Königskinder, Päpste, Politiker und auf roten Teppichen Stehende winken. Ein royales Winken. Dabei ist diese kleinste und zugleich schönste Geste der Menschheit die grazilste, vielfältigste, einfachste, bezauberndste, charakteristischste, größte Geste der Welt.
Es ist dieser kurze Moment, in dem der Körper spricht, ohne dass er laut werden muss. Dass sich diese dem Anderen öffnende Geste verflüchtigt hat, ist sicher auch Ergebnis der absoluten Körperkontrolle. Und das ist schade. Man sollte viel mehr winken. Zeig mir, wie du winkst, und ich sag dir, wer du bist. (DORIS AKRAP)
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Kontra: „Wenn ihr mich unterhalten wollt, zeigt Fußball“
Wer dieses Jahr WM schaut, hat manchmal das Gefühl, er stehe im Asia-Laden: überall idiotisch grinsende, selbstverliebt dreinschauende Winkekatzen. Im Gegensatz zur Nabelschau der Stadionbesucher erfüllt die monoton hin und her schwingende Pfote der Plastikkatze aber immerhin einen Sinn: Sie soll Kunden ins Geschäft locken, das Glück herbeiwinken. Das mag man für Aberglaube halten, doch wenigstens steckt dahinter eine erkennbare Motivation.
Anders bei den Stadiozuschauern: Kein Mensch weiß, was es bedeuten soll, dass all diese Leute hysterisch mit der Hand wedeln, sobald sie sich selbst auch nur für einen kurzen Moment auf der Leinwand erblicken. Wem winken all die WM-Kätzchen in Fußball-BHs? Was wollen diese grölenden Machos mit Brasilien-Behutung von mir? Ist es möglich, dass sie tatsächlich glauben, irgendein Zuhauseschauer würde sich über ihren Anblick freuen? Denken die, dass es Spaß macht, daheim im piefigen Schland braungebrannten Brasilienreisenden beim Im-Stadion-Schauen zuschauen zu müssen? Oder schlimmer: Richtet sich das Winken gar nicht an mich, sondern meinen all die idiotisch Hüpfenden tatsächlich schlicht sich selbst?
Kann man so verblendet sein, eine ganze Weltöffentlichkeit dazu zu zwingen, ihnen beim Sich-selbst-Zuwinken zuschauen zu müssen? Nein, liebe WM-Regie, es mag ja gut gemeint sein, mich an der Stadionatmosphäre teilhaben lassen zu wollen, aber so wird das nichts. Wenn ihr mich unterhalten wollt - okay: Zeigt mir Fußballmädchen, die beim Blick auf die Leinwand merken, dass sie beim In-der-Nase-Bohren gefilmt wurden. Oder spieltrunkene Jungs, die sich vor Millionen Fernsehzuschauern ihr alkoholfreies Bier über die Hose schütten. Wenn das zu schwer ist, geht's auch leichter: Zeigt doch bitte einfach Fußball! (JULIA LEY)
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