Pro & Contra Deutsche Linke und Kurden: Rojava – eine realisierte Utopie?
Das kurdische Rojava ist für viele deutsche Linke ein Ort gelungener Revolution. Ist es das zu Recht – oder eine Projektionsfläche?
Ja:
Ihre Protagonist*innen, diejenigen, die sich daranmachten, hier eine Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit zu errichten, durfte ich in den kommenden Monaten in vielen sehr unterschiedlichen Situationen kennen lernen: Da waren professionelle Politaktivist*innen, die geschult an den Ideen Abdullah Öcalans darangingen, ihre Ziele zu verwirklichen; da waren junge Frauen, die zum ersten Mal erfuhren, was es heißt, selber Politik machen zu können; und da waren greise Männer, die Nachtschichten schoben, um ihr Viertel gegen die Feinde der Revolution zu verteidigen.
Das Gerüst an politischen Institutionen, das Skelett dieser Utopie, ist simpel. Es gibt „Kommunen“, Organe politischer Willensbildung von unten, in denen sich ein paar Straßenzüge selbst organisieren. Die Kommunen haben „Komitees“ – meistens etwa zehn bis fünfzehn – zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens: Jugend, Bildung, Soziales, Wirtschaft, Selbstverteidigung und so weiter.
Die Kommunen sind zusammengefasst in „meclis“, Räten für Stadtteile, diese in den Stadträten, bis zur Ebene des Kantons. Drei Kantone – Afrin, Kobani, Cizire – gibt es, und die sind wiederum zusammengefasst in einem „Demokratischen Volkskongress“. Alle Ämter sind mit zumindest einer weiblichen Kovorsitzenden zu besetzen, zudem gibt es auf allen Ebenen noch zusätzlich völlig autonome Frauenstrukturen.
Auf dem politischen Feld sind – stellt man in Rechnung, dass diese Revolution erst seit sieben Jahren und inmitten eines brutalen Krieges aufgebaut wird – wirklich erstaunliche Fortschritte festzustellen. Klar, es gibt regionale Unterschiede, aber insgesamt kann man sagen, das System wird angenommen.
Noch ganz am Anfang steht die Revolution im Bereich der Wirtschaft und der Ökologie. Erklärtes Ziel ist es, eine Ökonomie auf Basis von Kooperativen zu errichten, die zugleich ökologisch nachhaltig sein soll. In beiden Bereichen bleibt viel an Arbeit zu tun, aber beides wird angegangen.
Der 21. März ist der Tag des kurdischen Neujahrsfestes Newroz. Die KurdInnen begreifen ihn als Symbol ihres Kampfes um Selbstbestimmung. Zu diesem gehört der Versuch, im Norden Syriens eine Autonomieregierung aufzubauen – viele Linke setzten große Hoffnungen in das Projekt „Rojava“. Doch jetzt ist die Türkei gemeinsam mit dschihadistischen Gruppen in die Offensive gegangen. Am diesjährigen Newroz-Tag eskaliert der mit deutschen Waffen geführte Krieg in Afrin, der Westen lässt es geschehen. Die taz spürt zu Newroz mit einem Dossier der Lage der KurdInnen nach. Hier die Artikel im Überblick.
Nun kann man sagen: Das klingt ja kitschig. Das muss ja Propaganda sein. Und in der Tat, es ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Dieser Aufbau ist hart erkämpft. Ohne die Opfer, die Tausende Kämpfer*innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ erbracht haben, wäre er nicht möglich gewesen.
Und ebenso richtig ist: Dieser Prozess vollzieht sich nicht ohne Widersprüche, nicht ohne Brüche und nicht ohne – leider notwendige – taktische Allianzen mit allen möglichen Kräften in der Region. Auch richtig ist: Er ist weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Weder ist bislang eine „perfekte“ Demokratie in Rojava verwirklicht noch der Sozialismus. Und – Überraschung – natürlich ist auch das Patriarchat nicht überwunden.
Aber der Weg der Bevölkerungen Nordsyriens hat gezeigt, dass es zumindest möglich ist, in diese Richtung aufzubrechen. Er hat Hunderttausenden Menschen Hoffnung gegeben, dass ein gelingendes Zusammenleben möglich ist – und das weit über die Grenzen Syriens hinaus. Für mich – und die meisten anderen Internationalist*innen, mit denen ich zusammen kämpfen durfte – waren die Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, eine Zäsur im Leben.
Wir waren verzweifelt, hatten den Glauben an wirkliche Revolutionen verloren. Rojava gab uns die Hoffnung auf die Realisierbarkeit konkreter Utopien wieder.
Peter Schaber
***
Nein:
Es fällt schwer, während die Menschen in Afrin um ihr Leben fürchten müssen, über das Verhältnis deutscher Linker zu Rojava zu schreiben. Was spielt es angesichts der Tragödien vor Ort für eine Rolle, wie sich eine gesellschaftlich marginalisierte Linke zu Kurdistan positioniert? Aufrufe an internationale Solidarität verhallen weitgehend folgenlos. Sie erscheinen, trotz martialischer Sprache und der Rede von Widerstand, nur als Ausdruck eigener Ohnmacht oder Selbstüberschätzung.
Als 2014 während der Belagerung Kobanis durch den „Islamischen Staat“ ausgerechnet die US-Airforce der syrischen Schwesterorganisation der PKK zu Hilfe kam, schien nichts an den Koordinaten liebgewonnener linker Weltbilder mehr zu stimmen. Schließlich verorteten sich PYD und PKK im linken, antiimperialistischen Spektrum. Die PKK steht seit Jahren auf der US-Terrorliste. Und doch schlossen die USA in Syrien ein taktisches Bündnis mit der PYD und unterstützten sie im Kampf gegen den IS.
Anfang Januar gab dagegen Russland, das in Teilen der Traditionslinken noch immer als Erbe der Sowjetunion gilt, der Türkei grünes Licht, in Afrin einzumarschieren. Ausgerechnet in Kurdistan kamen die politischen Koordinaten schon kurz nach Ende des Kalten Krieges durcheinander: Es waren 1991 die USA, Großbritannien und Frankreich, die über dem Nordirak eine Schutzzone gegen Saddam Hussein verhängten und dort eine kurdische Autonomie ermöglichten. Ohne Eingreifen des „imperialistischen Washington“ wiederum wäre Kobani 2014 wohl an den IS gefallen.
Ob man es mag oder nicht, dies sind die Fakten. Dagegen dominieren in der Linken verklärende und revolutionsromantische Reisereportagen das Bild von Rojava. Schon seit jeher ist der Nahe Osten eine Projektionsfläche, und in den Kurden sieht man das vermeintlich authentische unterdrückte Volk per se, das möglichst noch in traditionellen Gewändern gegen fremde Besatzer ankämpft.
Kurden – Zwischen den Fronten
Wenn dies dann noch mit marxistischem Vokabular und kämpfenden Fraueneinheiten geschieht, so scheint endlich das erfolgreiche linke Drittweltexperiment gefunden zu sein. Allzu oft geht es um eigene Befindlichkeiten: Die „kurdische Bewegung“ habe, schreibt das Lower Class Magazine, den „‚subjektiven Faktor‘ in der revolutionären Politik wiederentdeckt. Sie hat (…) unsere Gefühle, unseren Alltag, unsere Art zu leben zurück in den politischen Bereich gerückt.“
Repression gegen innenpolitische Gegner, Zwangsrekrutierungen und andere Maßnahmen, die nicht ins Bild passen, werden ausgeblendet. Was zählt, sind eigene Gefühle und Projektionen. Deshalb gerät die Forderung nach Solidarität auch zur gesinnungspolitischen Phrase. Die PYD/PKK bedient als letzte Gruppe aus dem Trikont die alte linke Bedürfnisstruktur.
Nun ist zu befürchten, dass mit dem Fall von Afrin die Begeisterung für das „revolutionäre Rojava“ abflauen und die Suche nach neuen revolutionären Subjekten beginnen wird. Not täte, neben einer Solidarität mit den Menschen vor Ort – nicht mit Parteistrukturen –, sich endlich vom unseligen „subjektiven Faktor“ zu verabschieden, der seit den 60er Jahren den linken Internationalismus dominiert.
Thomas von der Osten-Sacken
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