Privatsphäre in Großbritannien: Einkauf nur mit Burka
Tescos Scanningpläne von Kundengesichtern schockieren. Doch das ist eine Idee aus der Steinzeit: Andere Unternehmen gehen noch viel weiter.
Erste Boykottaufrufe gibt es schon. Kunden, die Tankstellen der britischen Supermarktkette Tesco nie wieder betreten wollen und wenn, dann höchstens vollverschleiert. Selbstschutz gegen eine gefühlt gigantische Bedrohung: das Scannen des Gesichts beim Warten in der Kassenschlange.
Für Tesco ist es ein Experiment: Das Unternehmen will an Hand der Gesichtsregion Alter und Geschlecht des an der Kasse wartenden Kunden bestimmen und ihm dann passende Werbung einblenden. Oder das, was der Konzern für passend hält. Im Unternehmensvideo der dahinterstehenden Firma Amscreen bekommt jedenfalls ein männlicher Kunde im mittleren Alter einen Clip für einen Energy-Drink angezeigt.
Die Situation ist paradox: Seit knapp einem halben Jahr kommen alle paar Tage neue Überwachungsgeschichten ans Licht. E-Mail-Verkehr mitgelesen, Telefone abgehört, US-Geheimdienst, britischer Geheimdienst, eigentlich kann gerade niemand sagen, dass von ihm ganz sicher keine persönlichen Informationen auf irgendwelchen Geheimdienst-Servern liegen. Vermutlich auch noch unverschlüsselt.
Die Aufregung über die Erkenntnisse hält sich in Grenzen. Natürlich, von geheimdienstlichem Datenabgreifen an Unterseekabeln ist in der Regel nichts zu merken, da knackt nichts in der Leitung. Doch kaum will eine Supermarktkette Gesichter scannen, nicht einmal speichern, geht die Entrüstung los.
Viele Kundendaten werden freiwillig hinterlassen
Dabei hinterlassen viele Kunden schon jetzt mehr und sensiblere Datenspuren bei einem Einkauf. Vor allem beim Bezahlen: Wer dafür die Kredit- oder EC-Karte zückt, erlaubt einen sehr genauen Einblick in das Kaufverhalten: Wer bin ich, wie häufig kaufe ich was wo ein? Noch präziser sind die Daten beim Onlinekauf, denn dabei erfährt der Händler zusätzlich Adresse, Telefonnummer, Geburtsdatum. Dazu kommen Bonuskarten, bei deren Benutzung auch Barzahler freiwillig auf Privatsphäre verzichten, um alle paar Monate eine Salatschüssel geschenkt zu bekommen.
Im Kommen sind RFID-Chips. Diese kleinen Informationsträger, die sich etwa in Kleidung, auf Verpackungen oder auch auf dem Bibliotheksausweis befinden können, lassen sich aus der Nähe auslesen, ohne dass der Träger es mitbekommt. Deutlich weniger auffällig als eine Kamera und mit viel interessanteren Informationen. Ihr Einsatz lässt sich praktischerweise damit begründen, dass es doch nur um einen besseren Ablauf in der Logistik gehe.
Der Mobilfunkkonzern Telefónica, der mittels Bewegungsdaten von Handy-Nutzern auswerten will, an welchen Orten Werbung besonders vielversprechend ist, geht noch weiter: Mit den Daten des Unternehmens ist es möglich, ganz genau nachvollziehen, wer wann welche Wege zurückgelegt und vor welchem Werbeplakat gestoppt hat, zurückgegangen ist, und später im Supermarkt vor dem Regal mit genau diesem Produkt stand. So gesehen ist Tesco eher Steinzeit. Okay, vielleicht Bronze…
Wir haben uns an die Überwachung gewöhnt
Das heißt nicht, dass die Idee ohne Probleme wäre. Im Gegenteil. Doch der kritische Punkt ist ein anderer. Der Scan, ja die reine Präsenz von Kameras trägt dazu bei, dass sie normal werden. Dass Überwachung normal wird. Schon jetzt jucken Kameras auf öffentlichen Plätzen keinen mehr. Zunehmend hängen sie auch in Hauseingängen und filmen Besucher, die vor den Klingelschildern stehen. Sie überwachen Läden, Bahnhöfe und den Innenbereich von Bussen und Bahnen – meist ohne dass die Gefilmten wissen, was mit den Bildern passiert.
Der Effekt ist der gleiche wie beim Fingerabdruck, mit denen sich Nutzer der neuesten iPhone-Generation identifizieren können: Warum sollte, was beim Handy Usus ist, beim Personalausweis, der Krankenversicherungskarte oder dem Bezahlen im Supermarkt ein Problem sein? Und wer hat noch mal unsere Fingerabdrücke, speichert sie wo und unter welchen Sicherheitsvorkehrungen?
Sich dagegen zu wehren wird schwierig. Sehr schwierig. Gegen einen Gesichtsscan, der laut Werbevideo des Unternehmens von schräg oben erfolgt, ist dagegen nicht einmal eine Vollverschleierung notwendig. Ein Basecap tut es im Zweifelsfall auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs