Privatsphäre im Internet: Tor zur Unterwelt
Es ist ein Schutzraum im Netz für Dealer und politische Aktivisten. Jetzt gehen Ermittler verstärkt gegen das Darknet vor.
SANKT GALLEN/ZÜRICH/BERLIN taz | Carmen Weisskopf und Domagoj Smoljo sind hauptberuflich, sagen wir: Beleuchter. Gemeinsam haben sie ein knalloranges Moped, ein fünfjähriges Kind und ein Kunstprojekt, das zu den intelligentesten Europas zählt. Sie nennen sich „!Mediengruppe Bitnik“. Wenn sie eine Aktion planen, dann nie ohne Anwalt. Ihr Thema: Überwachung und Staatlichkeit, Widerstand und derzeit vor allem: das Darknet. Gerade wollten die beiden Schweizer ihren Rückzugsraum mit einer Ausstellung feiern – und dann das: Der Rückzugsraum scheint bedroht.
Ende vergangener Woche: Der Chef von Europols Einheit gegen Cyberkriminalität, Troels Oerting, verkündet in Den Haag: „Die Kriminellen können davonrennen, aber sie können sich nicht verstecken.“ Weder seien sie unsichtbar noch unberührbar, auch nicht dank Tor. 410 Seiten im Darknet hätten die Ermittler gerade geschlossen. Eine riesige Razzia. „Unsere Arbeit geht weiter“, sagt Oerting. Tor, das war der Rückzugsraum. Tor, das ist seine Grundlage.
Das Tor-Projekt mit seinem Browser ist in den vergangenen Jahren zu einer der größten Hoffnungen auf Privatsphäre geworden und es war unter anderem Edward Snowden, der das Programm rühmte und bewarb. Denn der Tor-Browser lenkt einen auf dem Weg zu einer Internetseite um so viele Ecken, dass die Seite, auf der man dann irgendwann ankommt, nicht mehr nachvollziehen kann, von wo aus man losgesurft ist. Tor steht für The Onion Router: Wie die Schalen einer Zwiebel sich um ihr Inneres legen, so verbirgt Tor die InternetnutzerIn.
Anonym im Netz
Das entspricht der Sehnsucht vieler Menschen: Sie wollen im Internet anonym unterwegs sein. Sie wollen nicht, dass der Betreiber einer Internetseite weiß, dass sie bei ihm waren. Tor ist das Computerprogramm, das diese Sehnsucht bedient. Es kostet nichts, ist leicht zu installieren und zu nutzen. Die aktuelle Version heißt 0.2.5.10, ein paar Klicks nur, dann öffnet sich auf dem Bildschirm ein Fenster – und dieses Fenster führt hinein in eine Welt, die – ja, was ist sie? Verwegener? Gefährlicher? Oder einfach nur: freier?
Allerdings nutzen nicht nur Whistleblower, kritische Journalisten oder bedrohte Aktivisten die Software, sondern auch Pädophile oder Kreditkartenbetrüger. Und so ist im Schutz dieser Verschleierungstechnik einer der letzten, anarchischen Freiräume des Netzes entstanden, mit einem speziellen Adressverzeichnis, dessen Seiten auf .onion enden und die von Google nicht gefunden werden: das Darknet. Dort gibt es Dinge zu kaufen, deren Erwerb nicht immer gesund und schon gar nicht legal ist: Steroide, Waffen, gefälschte Ausweisdokumente.
Carmen Weisskopf und Domagoj Smoljo sitzen in ihrem Atelier. Es ist eine alte Garage, ein Lagerraum, ihre Kreativwerkstatt im Kellergeschoss eines Mehrfamilienhauses in Zürich. Draußen vor der Tür steht ihr oranges Moped, drinnen grübeln die beiden über ihre Ausstellung. Sie haben schon einmal ein Paket mit Kamera darin in die ecuadorianische Botschaft zu Julian Assange geschickt und die Bilder vom Weg dorthin veröffentlicht. Derzeit wollen sie das Darknet ergründen. „Das Darknet“, sagt Carmen Weisskopf, „hat das Potenzial, ein freierer Ort für uns zu werden.“
Eine gute Stunde von ihrem Atelier, in den Altstadtgassen von Sankt Gallen in der Schweiz, führt der Weg zu einer kleinen Kunsthalle, 700 Meter über dem Meeresspiegel. In den weiten, weißen Räumen dieser Halle schallen die Schritte wie ins Unendliche. Hier haben Weisskopf und Smoljo mit der Kunsthalle Sankt Gallen eine Entdeckungsreise installiert. „The Darknet: From Memes to Onionland. An Exploration“.
Wann kommt das Kokain?
Hinten rechts in der Ecke ist ihr eigenes Projekt zu besichtigen. Bitnik hat einen Einkaufscomputer programmiert. Der ordert über einen Zufallsgenerator jede Woche ein Produkt im Darknet, das per Postversand ohne Umwege in die Kunsthalle bestellt wird. Zehn der großen grauen Ausstellungsboxen rechts in der Ecke sind noch leer, zwei dagegen bereits belegt. In einem hängt ein Schlüsselset. Angeblich verschaffen die Schlüssel Zugang zu Feuerwehrwachen in Großbritannien. In einem anderen Kasten ist eine Ladung Chesterfield-Zigaretten ausgestellt. In der Post unterwegs sind außerdem eine gefälschte Louis-Vuitton-Tasche und eine Visa Card Platin.
Und nun fragen sich die Verantwortlichen in der Kunsthalle: Wie lange wird es wohl dauern, bis der Computer erstmals, sagen wir, eine Ladung Kokain ordert? Und was passiert dann – mit der Staatsanwaltschaft, dem Rechtsstaat und dem Kunstbegriff?
Das sind sie also, die Beleuchter. Bitnik holt das Darknet ins Licht. Bitnik will die Debatte darüber befördern: Könnte es nicht sein, dass wir das Internet noch mal neu erfinden, wenn wir es dorthin verlagern? Es wäre langsamer, es hätte eine andere Ästhetik – aber es hätte auch so viele Vorteile. Nicht jeder Klick würde dauernd irgendwo registriert. Was Bitnik sicher nicht ahnten: dass ihre Ausstellung so aktuell werden würde.
Als der Europol-Ermittler Troels Oerting in Europa den Kampf ausruft, haben Ermittler des FBI in den USA schon den jüngsten Kopf des Onlineuntergrundmarkts Silk Road in San Francisco festgenommen, dem Ebay für Illegales. Sein Name ist Blake Benthall. Benthall wird in der selben Stadt festgenommen, in der ein Jahr zuvor sein Vorgänger verhaftet worden war.
Auch damals begannen Spekulationen darüber, wie gefährdet Anonymität und Privatsphäre im Tor-Netzwerk seien: Haben die Ermittler eine Sicherheitslücke entdeckt? Ist das Tor-Netzwerk gefährdet? Dass sich die Kommunikation darin mit viel Aufwand entanonymisieren lässt, darauf hat es immer wieder Hinweise gegeben, auch in wissenschaftlichen Studien. Daran schließt sich jedes Mal die Frage an: Was bedeutet das für Aktivisten im Iran oder für kritische Journalisten in China?
Mit gefletschten Zähnen vor Polizisten
In der vergangenen Woche teilten die Ermittler von Europol und FBI mit, sie hätten bei einer Operation namens „Onymous“ 17 Menschen festgenommen. 410 Seiten des Darknets seien bei der Aktion geschlossen worden. Später werden sie die Zahl auf 27 herunterkorrigieren.
Blake Benthall ist 26 Jahre alt, ein Programmierer aus Kalifornien. Erst im Oktober hat er sich bei einer Demonstration in San Francisco mit gefletschten Zähnen vor einer Reihe von Polizisten fotografieren lassen und das Bild auf Instagram gepostet. Eine Zeit lang hat Benthall für die Raumfahrtfirma von Elon Musk gearbeitet, dem Paypal-Gründer und Tesla-Chef, der irgendwann den Mars besiedeln will. SpaceX heißt die Firma. Sie bestätigt, dass Benthall ihr Mitarbeiter war, bis Februar 2014. Da hatte er, mutmaßlich, seit einigen Monaten schon die Geschäfte der Silk Road 2 übernommen und managte den Drogenumschlagplatz, der in manchen Monaten laut FBI acht Millionen Dollar Umsatz gemacht hat.
Benthall, der sich als Silk-Road-Chef in den Foren der Plattform „Defcon“ nannte, muss sich im Klaren gewesen sein, wie stark seine Seite und das Netzwerk, das sie schützt, unter Beobachtung steht. Erst Ende Juli zog er mit den Servern um, weil die Entwickler des Tor-Projekts dazu geraten hatten. „Das ist sehr teuer und ärgerlich, aber es muss sein“, schrieb er an die Administratoren und die Moderatoren der Silk Road. Und schon da lasen die Ermittler mit.
Das FBI sucht Lücken
Im September beobachteten sie Benthall bei einem Besuch von Verwandten in Houston, Texas, und glichen die Zeiten, zu denen er das Haus betrat und verließ, mit „Defcons“ Aktivitäten auf der Silk-Road-Seite ab. Immer wenn er aus dem Haus ging, hörten diese Aktivitäten auf. Klassische Ermittlerarbeit. Wie die FBI-Männer allerdings in die Silk-Road-Foren vordrangen, wird aus der Anklageschrift nicht klar. Haben Sie eine Lücke im Tor-Netz gefunden?
Auf die Festnahmen nach der aktuellen Razzia und die Beschlagnahmung von drei Tor-Servern hat das Tor-Projekt zunächst mit einer Mitteilung auf seiner Homepage reagiert: „Wir müssen uns jetzt fragen: Wie konnte das passieren? Wir wissen es nicht.“
Anfang der Woche dann, die neue Silk Road 3.0 hatte schon wieder eröffnet, sagte Andrew Lewman, geschäftsführender Direktor des Tor-Projekts, der BBC, er halte die Behauptungen der internationalen Ermittlertruppe, sie hätten das Darknet quasi zerschlagen, für „extrem aufgeblasen“. Das Tor-Netzwerk sei nicht gefährdet. Wenig später hat das Mozilla-Projekt, das den Firefox-Browser entwickelt, mitgeteilt, man werde Tor unterstützen. Auch Facebook hat seit Ende Oktober eine Seite im Tor-Netz.
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