Premiere bei den Nordischen Filmtagen: Von glücklichen Anfängen
„Lutterbek – der Film“ erzählt von einem Sehnsuchtsort an der Ostseeküste, in dem die Karriere von Ina Müler startete. Premiere feiert er bei den Nordischen Filmtagen
Lübeck taz | Am Anfang ist da ein Knarzen zu hören. Wie wenn einer Schritt für Schritt eine Treppe hinaufgeht oder hinunter. Nein, eher hinauf. Dann öffnet sich das Bild, und wir sind in der Luft. Schauen von weit oben auf ein kleines Dorf. Es muss Sommer sein, alles ist grün, die Wiesen und die Weiden und die Bäume dazwischen. Sofort hat man wieder Lust auf den Sommer, auf Wärme und Licht, unbändige Lust und lernt dann in den kommenden anderthalb Stunden einen Ort in diesem Ort kennen: den „Lutterbeker“ in Lutterbek, Kreis Plön, auf der rechten Seite der Kieler Förde, nordostwärts. Die Ostsee ist nicht weit.
„Lutterbeker – der Film“ nennt die Fotografin und Filmemacherin Linn Marx ihren Film über den Veranstaltungsort „Lutterbeker“. Kinopremiere feiert er nun in der Sektion „Filmforum“ bei den „Nordischen Filmtagen“ in Lübeck, die im „Filmpalast Stadthalle“ an der Mühlenbrücke neue Filme aus und über Schleswig-Holstein zeigt.
40 Jahre ist es her, da haben das Ehepaar Strupp und Wolfgang Marx den „Lutterbeker“ eröffnet. Bis heute ist der Gasthof, Treffpunkt, Theaterbühne, Konzert- und Tanzsaal. Auch Galerie, manchmal Kino und mittlerweile auch Ferienort für gestresste Großstadtmenschen, nachdem die beiden den alten Dorfkrug saniert haben. Begleitet von misstrauischen Blicken der Dorfbewohner, für die ausgemacht war: Das wird nix. Die hauen bald wieder ab! Heute sind gerade die Nachbarn sehr froh, dass sie damals so unrecht hatten.
2.000 Stunden Material
Drei Jahre hat Linn Marx an dem Film gearbeitet, hat sich oft gemeinsam mit ihrem Vater Wolfgang durch dessen Filmarchiv gewühlt, denn der hat jeden Auftritt in seinem Haus dokumentiert und kann einen Fundus aus 2.000 Stunden Filmmaterial vorweisen. Zugleich hat Linn Marx das Fotoarchiv ihrer Mutter Strupp gesichtet, die Fotobestände der umliegenden Regionalzeitungen durchforstet und die getroffen, die damals dabei waren.
Zwischendurch erzählt Oma Anna, die Mutter von Strupp, davon, wie 1975 alles anfing und sie sich auch damit abfand, dass ihr Schwiegersohn nie Beamter werden würde. Sie sagt so schöne Sätze wie: „Man denkt, die wollen so leben und dann sollen sie so leben.“
Als weitere Begleiter durch den Film sind da Jürgen, Manno und Fiete, die an irgendeinem Nachmittag neulich am Tresen lümmelten und immer wieder sehr wortkarg sehr viel erzählen: von früher, von jetzt und wie beides hier ineinander fließt. Plus Gesche, die Tresenperle seit 36 Jahren. Die plötzlich die Fliegenklatsche nimmt, zuschlägt: „So! Das musste sein.“ Und dann redet sie weiter über ihre beiden Chefs Strupp und Wolfgang: „Die ackern, die sind fleißig, die sind in Ordnung.“ Das war ihr erster Eindruck, er gilt bis heute.
Linn Marx setzt mit leichter Hand aus Hunderten Fotos, Dutzenden Live-Mitschnitten und ebenso vielen Interviews, Gedichten und Zeichnungen eine eigene Welt zusammen. Und sie schlägt anders als handelsübliche Dokumentationen keine streng thematischen Schneisen in ihr Lutterbeker-Porträt, die oft die Atmosphäre kaputtmachen. Sie hat etwa klug auf die sonst übliche und mindestens leicht belehrende Off-Stimme verzichtet und lässt den Zuschauer selbst schauen.
Es gibt auch richtige Prominente zu sehen: Dirk Bach etwa, noch recht schlank. Tim Fischer ist dabei, Georgette Dee und Kay Ray. Arnulf Rating tritt auf und Gerburg Jahnke, noch mit den „Missfits“. Jahnke erzählt in sehr schönen Interview-Passagen schnoddrig, was sie als Künstlerin hier im Norden alles gelernt hat und wie sie sich immer noch wundert, dass ihr so viele Leute auf so unbequemen Stühlen begeistert zusehen.
Dann ist da noch Ina Müller. Die hat im „Lutterbeker“ ihre Karriere gestartet, ist hier künstlerisch groß geworden, mit ihrer Band „Queen Bee“. Sie ist für den Film noch einmal zurückgekommen und erzählt von diesen glücklichen Anfängen. Wie sie oben beim Ehepaar Marx in der Wohnung saß und auf die Straße blickte, wo die Leute aus allen Richtungen kamen und wie sie hörte, wie jeder Gast einzeln den Saal betrat und was er dann sagte – und ihr Lampenfieber wuchs und wuchs. „Da ging mir die Düse“, sagt Müller. Und dann folgt einer ihrer Auftritte aus den frühen 90er-Jahren, in dem zu sehen ist, dass alles, was sie heute ausmacht, damals schon angelegt war – nur noch nicht ganz so fernsehgerecht zurecht geschliffen. Was man ruhig bedauern darf.
„Lutterbeker – der Film“ ist das, was man einen kleinen Dokumentarfilm nennt. Er wird kein Millionenpublikum erreichen. Das ist auch nicht seine Absicht. Aber er wird all die beglücken, die davon überzeugt sind, dass Orte wie der „Lutterbeker“ ihrerseits Geschichten aufsaugen, die es mehr als wert sind, bewahrt und weitergegeben zu werden. Und so muss sich der Film auch überhaupt nicht vor den anderen 180 Filmen verstecken, die die Nordischen Filmtage versammeln – darunter auch große Produktionen, getragen von international bekannten Schauspielern und realisiert von namhaften Regisseuren.
Lutterbeker – der Film“: Premiere am 7.11., 22.15 Uhr, Filmpalast Stadthalle, Lübeck
57. Nordische Filmtage: bis zum 8. November in Lübeck. Weitere Infos: www.luebeck.de/filmtage/de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!