Premiere am Theater Bremen: Skizze eines Paradieses

Am Theater Bremen wurde Akın Emanuel Şipals neues Stück uraufgeführt. „Mutter Vater Land“ ist eine gesättigte Autofiktion von großer Poesie.

Szene aus "Mutter Vater Land"

Szene aus „Mutter Vater Land“ am Theater Bremen Foto: Jörg Landsberg

Ziellos zu sein, gilt als Makel, leider. Denn Akın Emanuel Şipals neues Stück „Mutter Vater Land“, das am vergangenen Donnerstag am Bremer Theater in der Regie von Frank Abt endlich Uraufführung feierte, hat kein Ziel, außer auf die Bühne zu kommen. Und das ist seine große Stärke und Qualität. Sein Anfang ist sein Ende. Der Text bewegt sich mal vor- mal rückwärts in der Chronologie: Die Geister einer möglichen Zukunft greifen in die Handlung ein. Die Figuren der Vergangenheit, die einst verschwunden sein werden, erscheinen leibhaftig.

Viele sind zudem die Dar­stel­le­r*in­nen des Ich, des „Alter Ego“, das im Zentrum des Werks steht. Die Rolle teilen sich Jan Grosfeld und Matti Weber, zwei Schauspieler, und die umwerfende Nihan Devecioğlu. Mit ihrer am Mozarteum klassisch ausgebildeten Stimme macht die Sängerin die differenzierten Skalen türkischer Melodik im rezitativisch performten Prolog zu einer echten Erfahrung. Fast hat sie etwas von Gewalt, so hilflos ausgeliefert ist man ihrer sehnsüchtigen Schönheit.

Das Stück ist ein lyrisches Drama, also weniger Bert Brecht, mehr Hugo von Hofmannsthal – und noch mehr Gertrude Stein: Konflikte, kann sein, dass es die gibt, Lösungen, zur Not auch. Aber das Interesse liegt nicht darin, sie durchzuspielen. Es geht darum, einen Ort zu erzeugen, der Hier ist und der Jetzt ist, und in dem Handeln denkbar wird: ein begehbares Bewusstsein seines Urhebers.

Susanne Schuboth hat das ins Bühnenschwarz als abstrakten viergeteilten Garten aus Holzstegen gebaut. Sie münden mittig in eine achteckige Plattform: ein skizziertes Paradies. Links steht eine Telefonzelle, ein Symbol fürs Wanne-Eickel der 1950er, das im Inneren sicher nach kaltem Tabak riecht. Und im Hintergrund, weit über allen, hockt, an der Wand, mit Studierstubenlampe der Großvater in seinem per Eisenleiter erreichbaren Gehäus. Siegfried W. Maschek spielt, mit ans Bösartige grenzender Kauzigkeit den Opa als einen Übervater, Romancier und Übersetzer, bewundertes Vorbild.

Deutsch-türkische Fernbeziehung

Er hatte, erfährt man, nach seiner Germanistik-Promotion in Münster (Westfalen) Oma geheiratet. Die Ehe verkümmert sehr bald zur bloß telefonisch gepflegten deutsch-türkischen Fernbeziehung. Oma ist in Polen geboren, lebt im Ruhrpott und legt Wert darauf, Schlesierin zu sein. Von Türken, das macht Irene Kleinschmidt in schroffer Wurstigkeit klar, hält sie wenig. Ihrem Sohn verbietet sie, die Nationalität seines Vaters in der Schule zu verraten.

Theater Bremen, Kleines Haus: 29. Juni, 1. Juli, 13. bis 15. Juli, jeweils um 20 Uhr

Ist das nur Rassismus? Oder auch Klugheit? Als er’s doch einmal getan hat, ist der Junge jedenfalls mit blutiger Nase heimgekommen. Niemand kann wohl blitzartiger vom knatschigen Kind in die Rolle eines biederen Vaters switchen als Matthieu Svetchine: Gleich drauf schon muss er Erwachsener sein und seinem pubertierenden Sprössling, also einem der Alter Egos, mit bescheuerten Lebensweisheiten erst ins Gewissen reden, um ihn dann anzuschreien und unter Stubenarrest zu stellen: „In dein Zimmer mit dir.“

Nacherzählt mögen diese Figuren und ihre Verwicklungen wirken, wie konstruiert für ein Lehrstück mit der berechtigten Botschaft, dass deutsch-türkische Beziehungen mehr Dimensionen als das Gastarbeiter-Narrativ beinhaltet. Aber das sind sie nicht: Ihre Komplexität ist gerade eher Spur der Wirklichkeit.

Was hier gespielt wird, ist eine familiengeschichtlich gesättigte Autofiktion. Akın Emanuel Şipals Vater ist in Wanne-Eickel geborener Turko-Deutscher. Seine Mutter ist als Kind von Istanbul mit ihren Eltern, Arbeitsmigrant*innen, nach Gelsenkirchen gezogen. Und auch ist der Dramatiker wirklich Enkel von Kâmuran Şipal, dessen Opus magnum, der gefeierte Roman „Sırrımsın Sırdaşımsın“, sich jeder Übertragung sperrt. Er gilt als wichtigster Übersetzer moderner deutschsprachiger Literatur ins Türkische. Als er 2019 starb, so hat Akın Şipal der taz erzählt, hat er trotzdem „noch nicht einmal einen Nachruf bekommen, in Deutschland. Es hat hier keiner Notiz davon genommen.“

Die Kränkungen. Und die Aggressionen, die sie erzeugen, bis sie in irre Fantasien abschweifen von im Irrealis herumtollenden Tataren und einem Blutbad – diese Kränkungen sind real. Eigene Wunden zu zeigen ist kein Egotrip: Indem er sie ausstellt, macht sich Şipal in ihnen erneut verletzlich. Auf der Bühne aber ist es möglich, dass Erfahrung die Grenzen der Person übersteigt. Sie wird kollektiv. Die Verletzungen gemeinsam zu spüren erlaubt, auf Zukunft zu hoffen: „Vater Mutter Land“ ist ein wichtiges Stück, ein berührendes – und poetisch ist es auch.

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