Preisrutsch schockt Landwirte: Milchpreis kippt, Bauern sauer
Niedersächsische Molkerei droht mit Abnahmepreis unter 20 Cent pro Kilo. Agrarminister zahlte gern für Produktionsdrosselung, doch der Bund will nicht.
REHBURG-LOCCUM taz | Einen weiteren dramatischen Preisrutsch hat eine erste niedersächsische Molkerei ihren Vertragslandwirten in Aussicht gestellt. Man erwarte „in den kommenden Monaten einen Absturz auf etwa 20 Cent/kg“, warnt die inhabergeführte Frischli Milchwerke GmbH aus Rehburg-Loccum, die sich mit einer Verarbeitungsmenge von 823 Millionen Kilo selbst „zu den großen Molkereien in Deutschland“ zählt. „Ein weiterer Verfall auf 19 Cent und tiefer ist nicht auszuschließen.“
Die Vollkosten für ein Kilo Milch hatte die niedersächsische Landwirtschaftskammer 2015 mit gut 44 Cent beziffert. Bauern erwarten jährliche Verluste von rund 1.000 Euro pro Kuh, macht 70.000 bis 100.000 Euro für einen durchschnittlichen Betrieb. Auch das Frischli-Management spricht von einer „dramatischen Marktlage“.
Aus mehreren Gründen ist ein solches Schreiben ungewöhnlich: Einerseits halten sich Molkereien meist zurück mit einer verbindlichen Ankündigung geplanter Preise, um nicht in den Ruch illegaler Absprachen zu geraten und um ihre Zulieferer nicht zu verschrecken. Andererseits fällt auf, dass die Molkerei zur Mengendrosselung rät. Damit hat sie in einer ideologisch aufgeladenen Debatte um Ursachen für den Preisverfall und Mittel, ihn zu stoppen, die Position der Underdogs vom Bundesverband deutscher Milchviehhalter und der alternativen Bauernvereinigung AbL übernommen – gegen die Positionen von Milchindustrie-Verband und dem Braunschweiger Thünen-Institut, das für den Bund agrarökonomische Zusammenhänge erforscht.
Tatsächlich sprechen auch die Maßnahmen der EU, die seit Mitte 2015 durch Interventionskäufe versucht, den Preisverfall aufzuhalten, nicht für eine Wirksamkeit der Mengenreduktion: Schon Anfang April war die Obergrenze von 109.000 Tonnen Magermilchpulver erreicht. Seither ist der Ankauf gestoppt – die Preise stürzen weiter.
650 Millionen Tonnen betrug die Welt-Kuhmilch-Produktion 2014. 160 Millionen davon kamen aus Europa, 33 Millionen aus Deutschland.
3.643.000 Tonnen Molkereierzeugnisse wurden 2014 aus der EU ausgeführt, davon waren 721.000 Tonnen Käse, 646.000 Tonnen Magermilchpulver, 586.000 Tonnen Molke/Molkepulver, 389.000 Tonnen Vollmilchpulver
Zum Vergleich: 2.397.000 Tonnen Molkereierzeugnisse wurden 2005 aus der EU ausgeführt, davon waren 545.000 Tonnen Käse, 188.000 Tonnen Magermilchpulver, 364.000 Tonnen Molke/Molkepulver, 490.000 Tonnen Vollmilchpulver
Dessen ungeachtet hat sich die Agrarministerkonferenz vergangene Woche für einen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein konzipierten „Drosselbonus“ ausgesprochen: Anfang des Jahres hatte die niederländische Friesland-Campina-Molkerei ihren Landwirten weniger gelieferte Mengen vergütet. Auf der Agrarministerkonferenz im mecklenburgischen Göhren-Lebbin diente das als Modell für einen anteilig von Molkereien und Staat getragenen Zuschuss für Milchbauern, die freiwillig ihre Produktionsmenge senken: „Das würde dazu beitragen, wirksam Milch vom Markt zu bekommen“, vermutet Niedersachsens Ressortchef Christian Meyer (Grüne). Ihm zufolge wäre das „ein echter Paradigmenwechsel hin zu einem politischen Markteingriff zugunsten der Milchbauern“. Umso unverständlicher sei, dass „Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt einen solchen Schritt nach wie vor vehement ablehnt“.
Wohl auch, weil das Thünen-Institut skeptisch bleibt: „Wir sehen dieses Instrument nach wie vor sehr kritisch“, so der Leiter des Instituts für Marktanalyse, Martin Banse, „wenigstens sobald es nicht rein privatwirtschaftlich angewandt wird.“
Zugleich bewertet er das Andauern der Krise als problematisch: „Das klingt zwar hart“, so Banse, „aber jetzt geht es nur noch darum, wer den längeren Atem hat.“ Oft treffe es gerade diejenigen Unternehmen, die investiert haben. Möglicherweise auch, weil das Thünen-Institut noch 2012 „steigende Milchpreise nach dem Auslaufen der Quote“ prognostiziert hatte, haben in Niedersachsen und Schleswig-Holstein etliche Landwirte Kredite aufgenommen, sei es, um die Herden zu vergrößern, die Höfe zu modernisieren oder um auf Bio umzusatteln: Um zertifiziert zu werden, muss ein Betrieb bereits zwei Jahre lang die Öko-Standards erfüllt haben, erst danach kann er seine Produkte zum höheren Bio-Preis verkaufen. Jetzt droht gerade ihnen das Aus. Dabei ist die Agrarwende laut den norddeutschen Koalitionsverträgen ein politisches Ziel.
Immerhin hat Niedersachsen angekündigt, die Bio-Umstellungsprämie auf 402 Euro pro Hektar zu erhöhen. Doch abhängig ist das von der Zustimmung der EU – und auch diese Prämie darf nur nach erfolgter Umstellung ausgezahlt werden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass viele vorher aufgeben müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee