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Niedersachsens Bauern bangenDas Höfesterben geht weiter

Niedersachsens Landwirtschaftskammer verspricht steigende Erträge, doch Agrarminister und Bauernverbände fürchten um die Existenz von Betrieben.

Großvieh macht doch Mist: Niedersachsens Landwirte verdienen besser als gedacht Foto: Martin Schutt/dpa

HANNOVER taz | Gerhard Schwetje, Präsident der Landwirtschaftskammer Niedersachsen, setzt auf das Prinzip Hoffnung. Nach den Berechnung seiner Ökonomen können Haupterwerbslandwirte in Deutschlands Agrarland Nummer eins mit steigenden Erträgen rechnen: Um rund zehn Prozent dürften die Einkünfte aller Betriebe im noch bis Anfang Juni laufenden Wirtschaftsjahr 2016/17 steigen, glauben sie. 67.500 Euro könne der durchschnittliche Hof erwirtschaften, teilt die Kammer mit – und zieht ein positives Fazit: „Nach zwei wirtschaftlich schwierigen Jahren“ sehen die Landwirte „endlich wieder Licht am Ende des Tunnels“.

Geradezu explosionsartige Ertragssteigerungen prophezeit die Kammer ausgerechnet den gebeutelten Milchviehhaltern und Schweinemästern. Der durchschnittliche Milcherzeuger könne mit einem Ertrag von 77.000 Euro vor Investitionen, Steuern und Sozialabgaben rechnen – ein Plus von satten 48 Prozent im Vergleich zu den vorherigen fünf Geschäftsjahren seit 2011. Auch den Haltern von Mastschweinen wird eine 30-prozentige Steigerung ihres Einkommens auf 67.000 Euro versprochen.

Bei Landwirten allerdings sorgen Schwetjes Zahlen für blanke Wut. Eine „Dreistigkeit sondergleichen“ sei die Positivprognose, sagt nicht nur Elisabeth Hartje vom Bundesverband deutscher Milchviehhalter. Von „Durchhalteparolen“ spricht auch Ottmar Ilchmann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL), zu der sich traditionell wirtschaftende Betriebe zusammengeschlossen haben. „Die wollen, dass wir nicht nachdenklich werden, sondern auf die Zukunft hoffen“, sagt er. „Nicht umsonst fehlt jedes Wort des Bedauerns über die ganzen Betriebe, die aufgeben mussten.“

Denn nicht nur unter Milch­erzeugern grassiert seit Jahren ein massives Höfesterben. Gab es 2006 deutschlandweit noch rund 105.000 Milchviehbetriebe, waren es 2016 nur noch 69.174 – davon 10.086 in Niedersachsen. Bei den Schweinefleischproduzenten sieht es nicht viel besser aus: Der Bauernverband Landvolk, der sonst einer rationellen, großindustriellen Landwirtschaft das Wort redet, klagt etwa, dass in Niedersachsen 2016 jeder zehnte Sauenhalter aufgegeben habe.

Ruinöse Preise

Mit Wegfall der EU-Milchquoten kannte der Preis lange nur eine Richtung: nach unten.

Grund dafür ist eine ruinöse Überproduktion: In Europa wird schlicht mehr Milch erzeugt als verbraucht.

Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt setzt – wie der Bauernverband – deshalb auf Export: Überschüssige Produkte wie Milch, aber auch Fleisch sollen weltweit vermarktet werden – etwa in China.

Der Bund der Milchviehhalter, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft oder grüne Politiker wie Niedersachsens Landwirtschaftsminister Christian Meyer glauben dagegen nicht, dass Europas Landwirte mit riesigen Agrarfabriken etwa in den USA mithalten können.

Sie setzen auf qualitativ hochwertige Produkte – und auf sanfte Eingriffe in den Markt: Droht ein Überangebot, sollen Prämien die Bauern zur Drosselung der Produktion bewegen.

Das diese Strategie funktioniert, zeigt die Milchkrise des Jahres 2015: Reduktionsprämien sorgten für sinkende Liefermengen – die Preise stiegen prompt um rund 50 Prozent. existenzsichernd sind sie aber noch immer nicht.

Der Grund dafür ist einfach: Die Erzeugerpreise sind einfach nicht existenzsichernd. Von August bis November vergangenen Jahres zahlten die Molkereien den Bauern nur noch 20 Cent pro Liter Milch – in die Gewinnzone kommt ein traditionell wirtschaftender Hof mit durchschnittlich 86 Kühen wie in Niedersachsen aber erst bei Preisen ab 40 Cent. „Pro Jahr und Kuh haben unsere Betriebe zwischen 1.000 und 2.000 Euro Verlust gemacht“, sagt Milchbäuerin Hartje.

Aktuell liegen die Preise bei 32 Cent pro Liter Milch. „Damit können wir zwar das Futter bezahlen, verdienen selbst aber keinen Cent“, schildert Hartje die Existenzkrise vieler Landwirte. „Nicht wenige Bauern können mittlerweile Hartz IV beantragen“, glaubt auch der ABL-Vorsitzende Ilchmann. Hoffnung sei kaum in Sicht: „Weil Mengenreduzierungen auslaufen und vermehrt in der Krise eingelagertes Milchpulver auf den Markt kommt, sinken die Preise schon wieder“, sagt Hartje.

„Gerade im Milchmarkt ist die Krise noch lange nicht vorbei“, fürchtet auch Niedersachsens grüner Landwirtschaftsminister Christian Meyer. Zwar haben EU und Bund allein in den vergangenen zwei Jahren eine Milliarde Euro zur Stabilisierung des Milchmarkts ausgegeben. Allerdings habe der exportorientierte Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) dafür gesorgt, dass nur 150 Millionen an die Reduzierung der Milchmenge gekoppelt wurden, kritisiert Meyer – der Rest sei ohne nachhaltige Wirkung auf den Preis verpufft.

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