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Präventionsarbeit vor SilvesterHow to Böller

Streetworker und Feuerwehrleute klären Jugendliche über die Gefahren illegalen Böllerns auf. Ziel ist es auch, gegenseitiges Verständnis zu fördern.

Was von einer Hand übrigbleibt bei legalen und illegalen Böllern Foto: Anna Tiessen
Lilly Schröder

Aus Berlin

Lilly Schröder

Flammen lodern aus Mülleimern, Barrikaden versperren die Straße, immer wieder fliegen Böller, Pyrotechnik und Feuerlöscher auf das Einsatzfahrzeug. Dann greifen maskierte Männer den Wagen an und rauben ihn aus. Die Scheibe eines weiteren Einsatzautos wird mit einer Schreckschusspistole eingeschossen. „Das kann Menschenleben kosten“, sagt Jonas Grimmer. „Wir wollen in der Silvesternacht Verletzten helfen, aber werden massiv behindert.“

Die Aufnahmen stammen aus vergangenen Silvesternächten in Berlin. Der Feuerwehrmann zeigt sie an diesem Dezemberabend im Rahmen eines Aufklärungsworkshops zur sicheren Nutzung von Feuerwerk. In den Wochen vor Silvester ziehen Streetworker des Jugendhilfeträgers Outreach durch die Bezirke und klären zusammen mit Feuerwehrleuten der jeweiligen Wachen über Risiken und Konsequenzen des Böllerns sowie über die Arbeit der Einsatzkräfte auf. Das Ziel: „Wir wollen Brücken bauen“, sagt Streetworker Burak Caniperk. Den Kids erklärt er: „Wir sind alle coole Leute und nicht gegeneinander.“

Entstanden ist das Projekt als Reaktion auf die Krawalle in der Silvesternacht 2022/23. Damals hatten Jugendliche in der High-Deck-Siedlung in Neukölln einen Reisebus in Brand gesetzt. Als die Feuerwehr eintraf, versperrten ihnen brennende Mülltonnen den Weg. Einsatzkräfte wurden mit Steinen, Flaschen, Feuerwerkskörpern und Schreckschusspistolen attackiert. Der Einsatz musste zunächst abgebrochen werden, die Flammen griffen auf darüberliegende Wohnungen über.

Polizeiaufgebot soll an Silvester Böllerverbote durchsetzen

Hier ist das Böllern dieses Jahr verboten: Am Alexanderplatz, im Schöneberger Steinmetzkiez, im oberen Teil der Sonnenalle und angrenzenden Nebenstraßen und der Admiralsbrücke samt angrenzender Nebenstraßen. Um das zu kontrollieren, werden 4.300 Po­li­zis­t*in­nen im Einsatz sein, wobei diesmal auf Absperrungen verzichtet werden soll. Bereits 100.000 als gefährlich eingestufte Sprengkörper wurden von der Polizei Berlin bereits beschlagnahmt. Im Bereich der Silvesterparty am Brandenburger Tor ist neben privatem Feuerwerk zudem das Mitführen von Waffen und Messern verboten. (dpa/taz)

Auf drei Gipfeln gegen Jugendgewalt wurden später Maßnahmen beschlossen, etwa mehr Sozialarbeit an Schulen sowie Workshops für Jugendliche mit Feuerwehr und Rettungsdiensten. Neben Pyroworkshops bieten sie auch Besuche auf den Wachen an, Erste-Hilfe-Kurse für Eltern, Boxtraining im Fitnessstudio der Wache sowie gemeinsame Koch- oder Grillabende. Die Jugendlichen sollen den Arbeitsalltag der Feuerwehr kennenlernen, die Feuerwehrleute die Lebensumstände der Jugendlichen. Seit Herbst 2023 fanden rund 200 Veranstaltungen statt, an denen etwa 11.000 Jugendliche und ihre Eltern teilnahmen. Finanziert wird das Projekt über Gewaltgipfelgelder.

Schöneberger Steinmetzkiez ist Böllerverbotszone

Im Jugendclub Villa Schöneberg haben sich an diesem Abend rund 30 Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren versammelt – ausschließlich Jungs. Sie sitzen in dem gelbgestrichenen Raum und schauen gebannt auf die Leinwand. Über ihnen sind Girlanden gespannt, auf einem Buffet liegen Chips und Gummibärchen, Spezi-Flaschen und Mandarinen.

Folgen eines Busbrandes für einen Häuserblock über der Sonnenallee Foto: Anna Tiessen
Ein Feuerwehrmann zündet einen Böller Foto: Anna Tiessen

„Wir wollen euch nicht belehren oder euch etwas verbieten, sondern entspannt auf Augenhöhe quatschen“, sagt Christian-Marc Hans – für die Kids heute „Hansi“. Der 33-Jährige ist seit 8 Jahren als Feuerwehrmann tätig, Jonas Grimmer seit 11 Jahren – beide in der Wache in Schöneberg. „Wir haben in der Silvesternacht so viel zu tun, wie in keiner anderen Nacht im Jahr“, erklärt Grimmer: Rund 1.900 Einsätze seien es in 12 Stunden. Die Ausschreitungen hätten in den letzten Jahren zugenommen, so der 34-Jährige.

Der Steinmetzkiez gehört neben dem Alexanderplatz, der Neuköllner Sonnenallee und der Kreuzberger Admiralsbrücke zu den Böllerverbotszonen. In Schöneberg war vergangenes Jahr eine Kugelbombe gezündet worden. Sieben Wohnhäuser im Umkreis von fast 100 Metern waren betroffen, 36 Wohnungen zunächst unbewohnbar. Fünf Menschen wurden verletzt.

Jetzt verstehe ich, warum meine Mutter mir nicht erlaubt, an Silvester rauszugehen

Workshop-Teilnehmer

„Das hat sich angefühlt wie ein Erdbeben“, erinnert sich ein Jugendlicher, der berichtet, in der Nähe gewesen zu sein. Ein anderer möchte wissen: „Werden Jugendliche, die mit illegalem Feuerwerk rumballern, verhaftet?“ Streetworker Burak Caniperk erzählt: „Ein Jugendlicher, den ich kenne, hat in einer Nacht so viel Kacke gebaut, dass es sein ganzes Leben beeinträchtigt. Was Halligalli an Silvester war, wird sein Leben lang Konsequenzen haben.“

Verständnis für die Einsatzkräfte

Hans und Grimmer geben Einblicke, wie die Feuerwehr sich auf die Nacht vorbereitet, wie viel Unterstützung sie von Johannitern und der freiwilligen Feuerwehr erhalten und gibt Tipps zu Erster Hilfe bei Verletzungen. Chipstüten knistern, Spezis zischen, die Kids lauschen den Feuerwehrmännern aufmerksam – und empfinden Verständnis für die Lage der Einsatzkräfte. „Die haben einen Dachschaden“, sagt ein Junge über Jugendliche, die Feuerwehrleute angreifen. Bei der Polizei könne er es ja noch verstehen, aber bei der Feuerwehr? Die wolle ja bloß helfen.

Hans und Grimmer erklären: Es sei inzwischen eine eigene Währung. „Die Kids wollen cool sein und schaukeln sich über Insta-Videos gegenseitig hoch.“ Diese Einschätzung teilt auch Marvin Uzoma, Streetworker bei Outreach: „Durch Social Media hat sich das Problem verschärft. Jüngere gucken sich das Verhalten bei den Älteren ab und ahmen es nach, weil es vermeintlich cool aussieht“, erklärt er. Uzoma spricht sich dafür aus, entsprechende Inhalte in sozialen Netzwerken stärker zu regulieren oder zu verbieten.

Andere gehen einen Schritt weiter und fordern ein Böllerverbot. Die Petition Böller Ciao fordert in einem offenen Brief mit inzwischen fast 900.000 Unterschriften, ein bundesweites Verkaufs- und Abrennverbot von Pyrotechnik. Initiiert wurde die Petition von einem breiten Bündnis aus über 50 Organisationen. So weit sind die Kids in Schöneberg noch nicht: Man solle Böller nicht verbieten, aber die Grenzen besser kontrollieren, sind sie sich einig. Denn die meisten illegalen Böller werden importiert, etwa aus Polen oder Tschechien.

Videos vom Böllern könnenn zum Problem werden Foto: Anna Tiessen

Die Feuerwehr erklärt den Kids, wie man legale von illegalen Böllern unterscheidet und welche Strafen bei illegalem Feuerwerk drohen. Wer nicht zertifizierte Böller zündet, muss mit Bußgeldern von bis zu 50.000 Euro oder sogar einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Auch das Abbrennen außerhalb der erlaubten Zeiten ist strafbar. In mehreren Bezirken gilt die Regelung, dass Pyrotechnik nur zwischen 18 Uhr am 31. Dezember und 7 Uhr am 1. Januar abgebrannt werden darf.

Bevor sie es endlich knallen lassen, zeigen Hans und Grimmer den Jugendlichen ungeschönt welche Verletzungen, vor allem durch illegale Böller, entstehen können: abgerissene Hautfetzen, zertrümmerte Knochen, Verbrennungen, Erblindungen und deformierte Hände, die nicht mehr als solche zu erkennen sind. Die Jugendlichen halten sich erschrocken Hände vor Mund und Augen. Bei jedem neuen Bild geht ein Raunen durch die Reihen.

Im Garten des Jugendklubs können die Kids sich die Hände anschließend live anschauen. Hans und Grimmer haben Böller in Gummihände gesteckt, die sie ferngesteuert zünden – legale und illegale. Der zugelassene Böller erzeugt einen lauten Knall, die Hand ist zerfetzt, aber alle Finger noch dran. Der nicht zertifizierte Böller „Dumbum“ knallt doppelt so laut, Finger wirbeln durch die Luft und landen zehn Meter entfernt von der komplett zerfetzten Hand. „Jetzt verstehe ich, warum meine Mutter mir nicht erlaubt, an Silvester rauszugehen“, murmelt ein Junge.

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