Präsidentschaftswahlen in Iran: Die Qual der Wahl
Vor der Stichwahl in Iran liegt der vermeintlich „moderate“ Kandidat vorne. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie zuvor.
Auf die Frage, ob sie bei der Präsidentschaftswahl ihre Stimme abgegeben hat, lacht Sepideh Mohammadi (Name geändert). Anstatt zu antworten, erzählt die 49-jährige Ärztin aus Schiras, dass sie jeden Tag von 10 Uhr bis Mitternacht arbeitet, genauso wie ihr Mann, der auch Arzt ist. Anders kommt das Ehepaar nicht über die Runden. Dann berichtet Sepideh Mohammadi von ihren Zusammenstößen mit der sogenannten Sittenpolizei, die durch das Land fährt und Frauen und Mädchen festnimmt, misshandelt und einschüchtert. Sie trage ihr Kopftuch, erklärt die Internistin, und sei kürzlich dennoch von den Sittenwächtern angehalten worden. Sie hatte Glück und wurde nicht mitgenommen. Es kann aber jederzeit wieder passieren. „Nein, ich habe meine Stimme nicht abgegeben“, sagt sie schließlich.
Aus der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am Freitag gingen zwei Männer hervor, die am 5. Juli in der Stichwahl gegeneinander antreten werden: Massud Peseschkian und Said Dschalili. Peseschkian erhielt 42,5 Prozent der Stimmen, Dschalili besetzte mit 38,7 Prozent den zweiten Platz. Insgesamt waren vier Männer angetreten. Peseschkian gilt als der einzige vermeintliche „Reformer“ unter ihnen. Die Wahlbeteiligung lag laut iranischen Behörden bei 40 Prozent.
Die Wahlbeteiligung ist für die Islamische Republik entscheidend: Seit der Staatsgründung preisen die Machthaber eine hohe Beteiligung als Beweis für die Unterstützung durch das Volk. Aus diesem Grund werden viele Menschen dazu gezwungen, wählen zu gehen: Beamt:innen, Militärs, Polizei, Unternehmer:innen, alle, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zum iranischen Regime stehen. Zudem sollen viele Menschen für ihre Stimmen bezahlt werden. Den Anschein einer Republik zu bewahren, in der Menschen etwas zu bestimmen hätten, ist für Revolutionsführer Ali Chamenei zentral. Chamenei bezeichnete die Wahl laut Iran Journal im Vorfeld als „wichtigen politischen Test“. Aber selbst die offizielle Wahlbeteiligung ist so niedrig wie nie zuvor bei einer Präsidentschaftswahl.
„Ich habe nicht gewählt und werde in meinem ganzen Leben nicht wählen, solange die Islamische Republik existiert.“ Shirin Mansoori (Name geändert) ist Lehrerin und lebt in Teheran. Viele ihrer Freund:innen wurden im Zuge der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste, die im September 2022 nach dem Tod von Jina Mahsa Amini das System erschüttert hatten, festgenommen. Mehr als 500 Menschen wurden auf den Straßen ermordet, Angehörige von Getöteten inhaftiert und unter Druck gesetzt. Tausende wurden festgenommen, weil sie für Freiheit und Gleichberechtigung demonstrierten. An einen „Reformer“ wie Massud Peseschkian glaubt Shirin Mansoori nicht.
„Die meiste Gewalt ist in diesem Land immer unter den Reformern ausgeübt worden“, sagt sie. Sie erinnert an die Aban-Proteste vom November 2019, als innerhalb weniger Tage 1.500 Protestierende getötet wurden. „Damals war Rohani Präsident.“ Rohani gilt wie Peseschkian als Reformer. „Peseschkian kann schönreden, das ist alles“, so die 32-jährige Lehrerin.
Das kann er in der Tat: Der 69-jährige Arzt und ehemalige Gesundheitsminister Peseschkian zog im Wahlkampf durch das Land und präsentierte sich als moderater Kandidat. Er sprach sich für Nuklearverhandlungen mit dem Westen aus und für mehr Freiheiten für Frauen. Nach der Ermordung Jina Mahsa Aminis durch die Sittenpolizei hatte Peseschkian das Vorgehen der Behörden kritisiert. All das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Peseschkian ein strammer Anhänger des Systems ist. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Mehr erklärte Peseschkian im Wahlkampf, dass er mit seinen Forderungen den „allgemeinen Vorgaben“ des Revolutionsführers folge. Moderat, so ist sich auch Shirin Mansoori sicher, ist nur seine Sprache.
Dschalili ist ebenfalls ein loyaler Verfechter der Islamischen Republik. Der 58-Jährige war Atom-Chefunterhändler Irans und ist gegen Konzessionen gegenüber dem Westen. Er ist ein enger Vertrauter Ali Chameneis und gilt als äußerst gewaltvoll. Dschalili soll sich stets für große Brutalität im Umgang mit Oppositionellen aussprechen. „Er ist ein sehr beängstigender Mensch, der weder sprechen noch zuhören kann“, sagt Shirin Mansoori. Sie kennt einige Menschen in ihrer Umgebung, die zwar im ersten Wahlgang nicht gewählt haben, aber nun doch überlegen, in der zweiten Runde ihre Stimme abzugeben – nur um Dschalili zu verhindern. Mansoori gehört nicht zu ihnen. Sie sieht es als Verrat an, sich an den Wahlen zu beteiligen.
Tatsächlich ist seit Protesten in den Jahren 2017 und 2018 einer der beliebtesten Slogans bei Demonstrationen: „Reformer, Hardliner, das Spiel ist vorbei“. Für viele macht es keinen Unterschied mehr, wer das Amt des Präsidenten innehält. Sind sie früher wählen gegangen, um das Schlimmste zu verhindern, so geht es für viele heute ohnehin nicht mehr schlimmer. Im Jahr 2023 wurden mehr als 800 Menschen hingerichtet, so viele wie seit Jahren nicht mehr. In den Gefängnissen wird gefoltert, sexualisierte Gewalt ist Alltag. Die wirtschaftliche Lage ist wegen der Korruption und der katastrophalen Innen- und Außenpolitik des Regimes verheerend. Viele gut ausgebildete junge Menschen wollen das Land so schnell wie möglich verlassen.
Ohnehin liegt die Macht in der Islamischen Republik in Händen des Revolutionsführers Ali Chamenei und seiner Gefolgsleute. Sie sind es, die bestimmen, was im Land passiert. Sie bestimmen, welche Freiheiten gewährt werden, welche nicht, sie bestimmen die Politik. Sie bestimmen alles. Wer unter ihnen Präsident ist, ist nicht entscheidend. Es ist möglich, dass Dschalili die Stimmen der ausgeschiedenen Kandidaten auf sich vereint und gewinnt. Vielleicht wird auch Peseschkian der Sieger sein. Eines ist sicher: Der Graben zwischen Bevölkerung und Führung ist unüberbrückbar geworden.
Die Ärztin Sepideh Mohammadi und ihr Mann entschieden sich vor zwei Jahren schweren Herzens, ihr einziges Kind zum Studieren ins Ausland zu schicken. Die Tochter solle nicht in einem Land wie der Islamischen Republik aufwachsen, so die Mutter. „Ich will, dass sie leben kann.“
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