Präsidentschaftswahl in Frankreich: Die Angst vor Le Pen
Viele Migrant:innen fürchten einen Sieg der rechtsextremen Kandidatin. Sie sind keine Macron-Fans, kämpfen aber „lieber gegen Demokraten als gegen eine Faschistin“.
Die Slogans an den Plakatwänden in Paris unterscheiden sich beim ersten Lesen kaum. „Nous tous“ – „Wir alle“ steht auf dem Bild des Amtsinhabers Emmanuel Macron. „Pour tous les Français“ – „Für alle Franzosen“ heißt es auf jenen der rechtsextremen Herausforderin Marine Le Pen. Für Menschen wie Bchira Ben Nia ein bedeutender Unterschied.
2015, mit Anfang 30, kam die Historikerin für eine Doktorarbeit aus Tunesien nach Frankreich, lebte danach jahrelang ohne Aufenthaltserlaubnis. Vier Tage vor der Wahl sitzt sie in einem Café am Pariser Place de la Nation, gerade endete ihre Schicht als häusliche Altenpflegerin in einem Vorort. Hunderttausende „Sans Papiers“ – Menschen ohne in Frankreich gültige Aufenthaltsdokumente – arbeiten in solchen Tätigkeiten. Ohne sie würde das Land nicht funktionieren.
Besonders schlimm traf die Sans Papiers die Coronapandemie. Viele verloren ihre prekären Jobs. „Und im Lockdown konnten wir nicht mal ohne Angst Brot kaufen“, sagt Ben Nia. Denn wer seine Wohnung verließ, musste mit einer Ausweiskontrolle rechnen.
Erst vernetzten sich die Sans Papiers auf Facebook, ab Mai 2020 gingen sie auf die Straße. „Wir mussten die Stille durchbrechen.“ Mitten im Lockdown demonstrierten sie in der Pariser Innenstadt für ein Aufenthaltsrecht, zunächst mit einigen Tausend, dann mit Zehntausenden. Die Polizei beschoss sie mit Tränengas, die Repression sei „extrem gewalttätig“ gewesen, „das war ja bei den Gelbwesten schon so“, sagt Ben Nia. Im Oktober 2020 organisierten die Sans Papiers einen Sternmarsch aus der ganzen Republik zum Élysée-Palast. „Aber Macron hat uns nicht empfangen.“
Aus diesen Protesten ging nun, vor der Wahl, das Bündnis Antirassismus und Solidarität hervor. Hunderte NGOs haben sich darin im Kampf gegen Marine Le Pen zusammengetan. Ben Nia ist eine der Sprecherinnen. In den Wochen vor der Wahl gehen sie in ganz Frankreich auf die Straße. Ihr Motto: „Nein zur extremen Rechten, für Gerechtigkeit und Gleichheit.“ Einen Wahlaufruf pro Macron gibt es von dem Bündnis nicht. „Aber natürlich ist es besser, Widerstand gegen einen Demokraten zu leisten als gegen eine Faschistin“, sagt Ben Nia. Und natürlich würden sich die Französ:innen in dem Netzwerk „alle genau überlegen, was sie am Sonntag tun“.
„Es ist vor allem die Sprache“
Es sei vor allem die Sprache, die die Kandidat:innen unterscheide. Der Hass, der aus der Kampagne von Le Pen gegen Menschen wie sie zu hören war, setzt Bchira Ben Nia zu. „Wenn einem solcher Rassismus entgegen schlägt – davon kann man sich nicht einfach emotional distanzieren.“ Die Sans Papiers haben seit Jahrzehnten dafür gekämpft, so genannt zu werden. „Macron benutzt den Begriff, für Le Pen sind wir nur Illegale.“
Daran hängt konkrete Politik. Im Mai sagte Macron bei einer Rede zu den Sans Papiers: „Vor den Rechten stehen die Pflichten.“ Fünf Jahre in Frankreich, 30 Monate Beschäftigung, Arbeitsvertrag, Sprachkenntnisse: Wer diese Bedingungen erfüllt, kann einen Aufenthaltstitel beantragen. „Formal hält Macron daran fest, faktisch ist es unter ihm viel schwieriger geworden“, sagt Ben Nia. Die Verwaltungshaft für Sans Papiers wurde ausgeweitet.
Und wer von der Polizei aufgegriffen werde, werde viel eher als früher ausgewiesen, und erhalte teils ein Wiedereinreiseverbot. Doch letztlich ließ Emmanuel Macron Möglichkeiten offen, den Aufenthalt zu legalisieren. Auch Ben Nia hat auf dieser Grundlage im September 2021 einen vorläufigen Aufenthaltstitel bekommen.
Marine Le Pen hingegen will mit Volksabstimmungen regieren – und als erstes über ein Paket zur Migration abstimmen lassen: keine Familienzusammenführungen mehr, Asylanträge nur noch im Ausland, Sozialleistungen für Ausländer erst nach fünf Jahren Arbeit im Land, Entzug der Aufenthaltserlaubnis nach einem Jahr ohne Arbeit, „Illegale“ systematisch ausweisen, französische Staatsangehörigkeit nur nach „Assimilationskriterien“. Für Ben Nia und Millionen andere gäbe es keine Perspektive mehr.
Le Pen sei „gegen das Wesen Frankreichs“, sagt Ben Nia. Das Land sei „nicht faschistisch“. Warum wählt dann fast die Hälfte trotzdem so?
Nizza, Bataclan und die Medien
Bchira Ben Nia nennt die häufigsten Erklärungen, die in Frankreich dazu zu hören sind: Die islamistischen Mordanschläge in Nizza und im Pariser Bataclan-Theater. Und die Medien. „Die tragen die größte Verantwortung.“ Denn sie hätten den islamophoben Hass jahrelang bereitwillig verbreitet.
Ein Bürogebäude in der Pariser Innenstadt, fünf Stockwerke, ein kleiner Garten im Hinterhof. Seit fünf Jahren steht es leer, am Sonntag haben 80 Sans Papiers es mit der antirassistischen Gruppe La Chapelle Debout besetzt. Der Zeitpunkt sei „schon mit Blick auf die Wahl“ ausgesucht, sagt Houssem, einer der Besetzer:innen, Mitte 20, der im Haus für die Übersetzungen in Farsi zuständig ist. „Alle Kandidaten machen Wahlkampf mit der Migration“, sagt er bei einer Zigarettenpause im Hof. „Aber ihr einziges Thema dabei ist die Logistik der Abschiebungen. Wir wollen, dass über Aufenthaltsrechte gesprochen wird.“
Durch die Wahl drohe „Faschismus“ in Frankreich insgesamt. Doch auf der staatlichen Ebene sei eine entsprechende Entwicklung seit Langem zu beobachten, sagt Houssem, der selbst in Frankreich geboren ist.
„Unter Macron weiß die Polizei: Sie kann mit Migranten machen, was sie will.“ Viele Sans Papiers müssten auf der Straße leben. „In Paris kommt die Polizei nachts dreimal zu ihren Schlafplätzen, vertreibt die Menschen immer wieder mit Tränengas. Sie können sich nirgends waschen und müssen dann mit dem Gas in der Kleidung weiter auf der Straße bleiben.“ Im Februar habe eine Antiterroreinheit der Polizei ein von Migrant:innen besetztes Hause geräumt. „Eine Militarisierung der Repression“, habe es unter Macron gegeben.
„Alle, die hier sind, stammen aus Ländern, die von Europa oder Frankreich kolonisiert waren“, sagt Houssem. Doch selbst Asylanträge aus Mali, wo Dschihadisten wüten, würden oft ohne Anhörung abgelehnt. Macron stelle sich als Kämpfer dar, um das Land vor der extremen Rechten zu retten. Dabei habe er dieser überhaupt erst einen Weg in den Élysée-Palast geebnet, sagt Houssem: „Wir rufen nicht zur Wahl von irgendwem auf. Wir rufen dazu auf, uns zu organisieren, egal wer gewinnt.“
„Die Faschisten geben die Macht nicht wieder her“
Zeit für eine Neuorganisierung der Linken, um 2027 Macron abzulösen, das sei für ihn das Argument für eine weitere Amtszeit Macrons. Der dürfe nicht nochmal antreten. Le Pen aber würde sich nicht abwählen lassen, glaubt er. „Wenn Faschisten erst mal an der Macht sind, geben sie sie nicht mehr her.“
Angesichts dessen, was drohe, sei die gesellschaftliche Reaktion sehr schwach, sagt er. „Als 2002 Jean-Marie Le Pen gegen Jacques Chirac in die Stichwahl kam, sind über eine Million Menschen auf die Straße gegangen.“ Jetzt waren es nur einige Zehntausend. Das sei sie, die „Faschisierung der Gesellschaft“. Anders als nun Macron hatte Chirac sich damals geweigert, in einem TV–Duell mit Le Pen aufzutreten – und haushoch gewonnen.
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