Prämierte Netflix-Serie „Liebes Kind“: In deutschen Kellern
Die deutsche Netflix-Serie „Liebes Kind“ hat den internationalen Emmy erhalten. Sie ist nicht schlecht, aber auch nur wie ein längerer Sonntags-„Tatort“.
Gewinnt eine deutsche Serie mal einen internationalen Preis, ist das Thema entweder Nazi, DDR oder dunkle Keller. So wie jetzt in „Liebes Kind“.
Die am Montag in New York mit dem internationalen Emmy ausgezeichnete sechsteilige Serie erzählt auch sehr deutsch, nämlich auf die gleiche Weise wie jeder durchschnittliche deutsche Kriminalfilm. Und das von Anfang an. Es gibt keine deutschere Krimiszene als diese: Eine Frau mit langen, blonden und verfilzten Haaren rennt mit frischen Wunden im Gesicht, vor Schreck aufgerissenen Augen und mit nichts als einem Nachthemd bekleidet durch einen dunklen Wald.
Vor wem und warum die Frau davonläuft, klärt sich im Lauf der Serie, deren Spannung dadurch erzeugt wird, dass jeder mal verdächtigt wird, Mörder*in, Entführer*in, Mittäter*in zu sein. Das Setting: ein dunkler Keller ohne Fenster, in dem eine spießige Wohnung mit Küche, Kinderschlafzimmer und Couch eingerichtet wurde und in der eine Frau und zwei Kinder von einem Mann festgehalten werden. Man denkt sofort an den Fall Natascha Kampusch.
Und das soll so. Die Netflix-Produktion „Liebes Kind“ aus dem Jahr 2023 basiert auf dem Romandebüt von Romy Hausmann. Das Buch war 2019 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und auch die Serie gehörte eine Zeit lang zu den meistgesehenen Serien unter den nicht englischsprachigen auf Netflix. Hausmann hat angegeben, von der Figur Natascha Kampusch inspiriert worden zu sein, jener Frau, die im Alter von 10 Jahren entführt wurde und acht Jahre lang in einem von der Außenwelt abgeschirmten Haus gefangen gehalten wurde.
Uneindeutigkeit bei Opferrolle
Nachdem sie sich befreien konnte, versuchte Kampusch selbst, an ihrem Bild in der Öffentlichkeit zu arbeiten. Sie wollte bei der Aufklärung ihrer Geschichte nicht nur als Opfer wahrgenommen werden. Diese Uneindeutigkeit, was die Opferrolle anbetrifft, scheint die Regisseure von „Liebes Kind“ am meisten fasziniert zu haben. Die Figur Hannah, das zwölfjährige Mädchen, das mit ihrem jüngeren Bruder und ihrer vermeintlichen Mutter von ihrem vermeintlichen Papa in dem Verließ festgehalten wird, wird im Verlauf der aus sechs Teilen bestehenden Miniserie immer unheimlicher. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt der Serienerzählung.
Gleich zu Beginn wird sie verdächtig. Als ihre Mutter es schafft, aus dem Verließ zu entkommen und von einem Auto erfasst wird, ist Hannah plötzlich zur Stelle, sitzt mit im Notarztwagen und nennt den Ärzten die falsche Blutgruppe der Mutter, was dazu führt, dass diese bei der OP fast stirbt.
Beängstigend gut
Immer wieder hört man Hannah zu sich selbst sagen, dass sie ein braves und gutes Mädchen sei, weil sie gemacht habe, was ihr gesagt worden sei. Immer unklarer wird jedoch, ob der „Papa“ genannte Mann, der die Familie gefangen hält, wirklich derjenige ist, der ihr das „gesagt“ hat.
Die Schauspieler in „Liebes Kind“ sind allesamt großartig, wobei Naila Schuberth, die das Mädchen Hannah spielt, so beängstigend gut ist, dass sie alle an die Wand spielt. Das verstärkt die Beklemmung, die ihre Rolle als eiskalter Engel, der Böses im Schilde führt, auslöst.
Nichts als ein langer „Tatort“
Und dennoch bleibt die Serie am Ende nichts als nur ein in die Länge gezogener „Tatort“. Bis in Details ist sie so ausgestattet, beispielsweise das Haus, in dem die Eltern der seit 15 Jahren verschwundenen Mutter von Hannah leben: ein geschmackvoll eingerichteter Bungalow mit Bücherstapeln, Louis-Poulsen-Lampe, viel Hygge und Design.
Dass jeder mal unter Verdacht steht, selbst die Sekretärin der Überwachungsfirma, könnte zwar interessant sein, aber all das Misstrauen in Bezug auf die Figuren bleibt oberflächlich. Genauso wie die Hauptmessage der Serie: Jede Familie, jede Beziehung hat ihre dunklen Kellergeschichten. Sicher, aber muss denn der Polizist immer gleich ein Verhältnis mit der Mutter des Opfers gehabt haben?
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