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Postfaktisch, das war gesternDie Linken halluzinierten die Wahrheit

Kommentar von Helmut Höge

Fake-News sind keine Erfindung des Trump-Lagers. Im Gegenteil. Mit gefakten Fakten wurden schon linke Revolutionen gewonnen und verloren.

Für die einen gelten Fakten, für die anderen gilt Ficken Foto: dpa

B is in die Achtzigerjahre haben wir Linke in einer Art schwarzen Aufklärung noch rational um das Postfaktische gerungen. Härte und Gefühl sozusagen. Ersteres wurde deduktiv eingesetzt – in Form einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik, um sodann letzteres, die gefühlten Fakten, der eigenen Weltsicht unterzuordnen. Das war das Postfaktische an den Tatsachen. Auf einem taz-Plenum Mitte der Achtzigerjahre sagte ein Redakteur wütend: „Wir brauchen keine Tatsachen, sondern Fakten!“

Man findet den Ursprung dieses nur vordergründig dummen Gedankens im sowjetischen Begriff der „Sabotage“. Ich greife zur Erklärung noch einmal auf ein taz-Beispiel zurück (die taz als letzter Rest DDR): Als zum zehnten Mal die Frauentoilette im ersten Stock des Redaktionsgebäudes verstopft war, meinte eine Kollegin aus dem Vorstand der taz: „Ich bin sicher, das ist Sabotage.“

Als taz-Aushilfshausmeister, der normalerweise die Frauentoilette entstopft (und nicht einmal ungerne – man hat dabei schnell ein Erfolgserlebnis – durch Wiederherstellung der Liquidität), gab ich zu bedenken, dass man ja bei den tazlerinnen keine „peinliche Befragung“ mehr durchführen dürfe, leider, und außerdem: Bei wem damit anfangen – bei dem hohen Frauenanteil in der taz?

Wir einigten uns darauf, dass es sich um „objektive Sabotage“ handeln würde. Nur der stinkbürgerlichen Justiz würde es um subjektive Sabotage gehen, indem sie versucht, den oder die Schuldige(n) zu finden und zu bestrafen.

In der revolutionären Sowjetunion war man da weiter – postfaktisch: Indem das Unterbrechen eines industriellen Fließprozesses zum Beispiel untersucht und gegebenenfalls als Sabotage charakterisiert wurde, war dort bereits der Ursachenforschung Genüge getan. Und das darauf folgende Erschießen von Schuldigen beziehungsweise Unschuldigen, zum Beispiel aus den Reihen der technischen Intelligenz, quasi Nebensache.

So wie man ja auch beim Liquidieren der Kapitalisten oder Kulaken als Klasse nicht untersucht hat, ob vielleicht ein guter Kapitalist oder Kulak da drunter ist, der deswegen weitermachen darf. Sie sind allesamt objektiv Feinde der angestrebten klassenlosen Gesellschaft. Man kann deswegen sagen: Das Postfaktische ist ein Vorgriff auf den Kommunismus.

Verlust der Deutungsmacht

Während die Reste der Sowjetunion nun aber zum Faktischen zurückfinden, wenn auch schweren Herzens, haben die Amis gerade voller Freude das Postfaktische für sich entdeckt: Die bürgerlichen Medien Washington Post und New York Times listeten unter Berufung auf „zwei Teams unabhängiger Forscher“ 200 Internet-Foren, -blogs und -plattformen auf, von links bis rechts, die mit „Fake News“ die Präsidentschaftswahl manipuliert hätten. Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass dahinter Putin mit seiner russischen Propagandamaschine stehe.

Dieser Schwachsinn verdankt sich jedoch keinem revolutionären Schwung, auch keinem klassenanalytischen Vorgehen, sondern schnödester Kapitalistenangst: Mit dem Internet verlieren ihre Printmedien sowohl Abonnenten ohne Ende als auch Anzeigen sonder Zahl – und damit auch die Deutungsmacht.

taz.am wochenende

Wer eine linke Alternative für Deutschland will, muss auf ein rot-rot-grünes Bündnis setzen. Aber können sich SPD, Linke und Grüne im Bund überhaupt auf ein Projekt einigen? Das große Streitgespräch mit Katarina Barley, Sahra Wagenknecht und Cem Özdemir lesen Sie in der taz.am wochenende vom 3./4. Dezember 2016. Außerdem: eine Sachkunde zu Donald Trumps Traum von einer Mauer zwischen den USA und Mexiko. Und: Wie Daten Politik machen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Zu unserer linken publizistischen Praxis des Postfaktischen in den Siebziger- und Achtzigerjahren gehörten im übrigen die Fake News unbedingt dazu. Ja recht eigentlich bezeichnete beides ein und dasselbe: Die Wahrheit halluzinieren, nannten wir das damals, andere sprachen vornehm von „intellectual guess“. In der taz-Redaktion hing einst groß der Spruch: „Wer recherchiert, ist nur zu blöd zum Schreiben.“ Mit dieser Methode spart man viel Geld (Reisekosten etc.), braucht – als „Gonzo-Journalist“ – höchstens ein bisschen Rauschgift, und zum Anderen macht es einen sicherer in der Einschätzung, dass man eh schon alles weiß – und es nur noch darauf ankommt, sich zu trauen, es auch zu veröffentlichen. Und sehr oft stimmte das so Halluzinierte dann auch.

Wir brauchen böse Blicke

Das Postfaktische, die Fake News gehören eindeutig in die große Tradition der deutschen spekulativen Philosophie, die bloß von den Amerikanern gering geschätzt und deswegen von den hiesigen Atlantikbrücken-Arschkriechern bekämpft wird. Als Eleven der „Frankfurter Schule“ wissen wir zudem, dass man zum klaren Denken den „bösen Blick“ braucht – sonst ist man in diesem Schweinesystem verloren, wie Theodor Adorno meinte.

Sogar der Spiegel ließ sich im Zuge der Studentenbewegung ein bisschen auf diesen „Blick“ – das „Postfaktische“ – ein. Aber dann kam Helmut Markwort mit seinem reaktionären Konkurrenzblatt Focus und bewarb es mit den Worten: „Fakten, Fakten, Fakten. Und immer an die Leser denken.“ Daraus machte die Titanic dann „Ficken, Ficken, Ficken, und nicht mehr an den Leser denken.“ Markwort klagte wegen Postfaktizität. Und verlor.

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Autor
geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.
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9 Kommentare

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  • Immer wieder niedlich, wenn hier "Linke" aus ihrem Nähkästchen plaudern.

    Der Titanic-Spruch "Ficken, Ficken, Ficken und nicht mehr an die Leser denken" war eine Anspielung auf die Zeit, als Helmut Markwort noch nicht Chefredakteur des Fokus war und sein Geld noch als Darsteller in einschlägigen Sexstreifen verdiente.

     

    by the way: Wer halluziniert, greift dabei nur auf bereits bekannte Realitäten/Fakten zurück, allerdings befreit von jeglichem Zusammenhang. Die Halluzination ist nicht postfaktisch, sondern postlogisch.

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Herrlich, wieder ein Helmut-Höge-Highlight zum Schwelgen.

  • Um ein genaues Bild von der Welt zu bekommen, sollte sich jeder darum bemühen, insbesondere emotionalisierende News mit den Informationen anderer Nachrichtenquellen aus dem gesamten politischen Spektrum zu vergleichen.

     

    Es ist traurig, wie uninformiert in Bereichen wie Umweltschutz, Flüchtlingsströme und Klimawandel selbst Politiker sind, die wichtige Entscheidungen über unsere Zukunft treffen sollen.

  • Generalisieren, abstrahieren, zu früh urteilen - all dies entfernt uns von der sogenannten Realität. Wie beschreibt man, zeigt man, stellt man dar, was die Realität ist? Ich lese gerne analysen, soziolgische, psychologische, philosophische - was können wir mit deren Begriffen über die Menschen die Gesellschaft erfahren, wissen. Peter Handke, der gute, sagte mal, schon 1968, gegen Sartre, nicht mal die Literatur, die ja relativ nah am Konkreten am einzelnen ist, kann mit der Methode des literarischen Schreibens wie durch eine Linse oder eine Lupe direkt auf die Realität schauen. Der literarsiche Text, so vestehe ich ihn, ist oder evoziert eine eigene Wirklichkeit. Eine gute, sogannte gute rede, sagen wir von Obama, ist so eine Form nicht immer auch eine Halluzintion, eine Ahnung, im besten Fall eine richtige. Ich glaube, das ist meine Schlussfolgerung, wenn wir sprechen oder schreiben vermitteln wir nie die reinen Fakten. (ist nicht sogar eine Tabelle möglicherweise tendenziös?) vielleicht hilft es, wenn wir mit der Sprache sorgsam umgehen. Mehr oder weniger postfaktisch ist jedes Sprechen. Was meint ihr? Immer wählen wir aus , haben wir eine bestimmte Perspektive, ignorieren eine mögliche andere .

    Die Wahrheit weiß keiner. Ichkann nur vesuchen wahrhaftig zu sein.

    • @Wolfgang Hanspach:

      Ich stimme Ihrer Schlussfolgerung zu. Ich denke aber auch, dass das sog. „Postfaktische“ gerade durch diese fehlende Wahrhaftigkeit gekennzeichnet ist. Man könnte es auch intellektuelle Unredlichkeit nennen: Wer postfaktisch redet und argumentiert bemüht sich nicht einmal mehr um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, sondern lässt ungeprüft das raus, was er halt so findet, was ihm gefällt und in den Kram passt. Fast nur noch Bauch, kaum noch Hirn sozusagen.

    • @Wolfgang Hanspach:

      Auf solch eine Unsicherheit bei Aussagen über die Wirklichkeit zielte der Artikel nicht ab.. Er will auch keine Begriffe unbrauchbar machen. "1+1=2" ist keine postfaktische Aussage, auch nich das die Erde rund ist.

      • @Rudolf Fissner:

        Sie meinen , z. B. dass 1+1=3, das sei postfaktisch? Sie wählen ein eher wenig komplexes Beispiel. Je schwieriger etwas nachzprüfen ist oder aber je mehrdeutiger Begriffe sind, um so leichter kann die Beschreibung der wirklichkeit inkonsitent zu den Fakten beschrieben werden. Unbeabsichtigt, aber auch bewusst oder unbewusst von Gefühlen getrieben. Jahrzentelang wurde ein falscher Wert über den Eisengehalt im Spinat verbreitet (ungeprüft abgeschrieben). Dass die Erderwärmung nicht menschengemacht sei , mag widerlegt sein, dennoch verunsichert es mich, weil ich die zig Studien der Widerlegung kaum beurteilen kann. Nur glauben.

        Ich persönlich habe keine Angste vor Aussagen, wo jemand zugibt dass es anscheinend so ist, so aussieht, relativ viele Belege gibt, wo man aber keine sichertheit behauptet, wenn diese faktisch nicht behauptet werden kann.

         

        Glaubwürdigkeit spielt hier eine rolle. Die muss ein Medium sich erarbeiten. Oder eine Person.

        Daher hilft etwas auch immer die Frage: Wer sagt das?

         

        Und da stehen bei mir persönlich die ganz Radikalen von rechts und die von links im ranking nicht ganz oben.

  • Die TAZ überrascht mich doch immer wieder. Soviel Realitätssinn hätte ich keinem zugetraut.

    • @Voilodion:

      Sehe ich auch so. Kluger Artikel!

       

      "Die Linken halluzinierten die Wahrheit

       

      Fake-News sind keine Erfindung des Trump-Lagers. Im Gegenteil. Mit gefakten Fakten wurden schon linke Revolutionen gewonnen und verloren."

       

      Nachdem ich DIESES gelesen hatte war meine quasi instantane Assoziation: "Asche auf mein/unser Haupt!".

       

      Die einzige Frage für mich: hatte ich diese Assoziation schon nach Attosekunde oder hat das nu' doch eher 'ne satte Femtosekunde gedauert... ;-)