Porträt des „Siebentürmeviertel“-Autors: Schreiben ist Krieg

Im neuen Roman von Feridun Zaimoglu emigriert ein junger Deutscher nach Istanbul. Ein Spaziergang durch das Siebentürmeviertel.

Blick auf Istanbul

Schauplatz: Im Roman „Siebentürmeviertel“ kommt der nichjüdische deutsche Halbwaise Wolf aus dem Nazi-Deutschland von 1939 nach Istanbul. Foto: dpa

„Schnauze, Feridun!“, sagt Feridun Zaimoglu und geht ein paar Schritte weg. Er steht in der frisch asphaltierten Gasse, in der sein Vater einst aufwuchs, ganz in Schwarz gekleidet unter der prallen Mittagssonne. Je mehr er von sich selbst wegkomme, sagt der Schriftsteller, desto besser sei es für ihn.

Er schnipst eine Mentholzigarette weg, steckt sich die nächste an. Das sei doch das Geile am Schreiben. Dass da plötzlich nicht nur ein Leben sei, sondern noch ein anderes. „Okay, jetzt spaziere ich hier als Feridun herum, mit meiner Hippietasche – alles schön und gut. Aber das ist doch unendlich langweilig. Da muss doch mehr sein!“

Wir sind im südwestlichen Teil des Istanbuler Bezirks Fatih, in dem Viertel, das sich Yedikule – zu Deutsch: sieben Türme – nennt. Zaimoglus neuer Roman spielt hier, er umfasst 800 Seiten und ist der inzwischen zehnte in zwanzig Jahren.

Alte Holzbaracken reihen sich neben umzäunte Neubauten. Gerahmt wird das gesamte Viertel von Überresten alter Burgmauern, die aus Zeiten des Byzantinischen Reichs stammen. Es herrscht eine angenehme Stille, bis ein paar schwere Holzlatten aus einem Fenster fliegen. In der Hitze treibt sich keiner draußen herum, bis auf zwei Frauen mit Einkaufstüten. Ihre Kopftücher hängen lose um das offene Haar.

Von sich selbst wegkommen – damit meint Zaimoglu, sich in eine andere Person hineinzuleben. Als der inzwischen 51-Jährige mit dem exzentrischen Silberschmuck an „Leyla“ schrieb, wurde er zur türkischen Gastarbeiterin. Auch bei „Isabel“ brach er mit seinem Geschlecht, nahm 16 Kilo ab, weil sich seine Protagonistin an der Grenze zur Magersucht befand.

Für „Siebentürmeviertel“ wurde Zaimoglu nun zum Halbwaisen Wolf, einem achtjährigen nichtjüdischen Deutschen, der 1939 gemeinsam mit dem NS-kritischen Vater nach Istanbul emigriert. Wolf wird mit einer völlig neuen Welt konfrontiert und dann auch noch vom stoischen Vater verlassen, der angeblich aus beruflichen Gründen nach Ankara ziehen muss.

So kommt der Junge bei einer türkischen Familie im Siebentürmeviertel unter. Man nennt ihn Hitlersohn oder Arier, doch er selbst begreift sich zunehmend als Türken, als Siebentürmler, der sich unbeschwert inmitten eines fabelhaften Figurenensembles bewegt. „Dieses Viertel ist mein Land“, heißt es im Prolog, und über 15 Jahre begleiten die LeserInnen Wolf und sein Land durch diverse Umbrüche.

Mokka im Männercafé

Es ist interessant, wie Zaimoglu, dessen Werk sich seit dem ersten Buch „Kanak Sprak“ von 1995 immer wieder um migrantische Biografien dreht, die Richtung diesmal umkehrt. Es geht von Deutschland in die noch junge türkische Republik, es geht um die Integration eines blonden Jungen in eine archaische, rechtschaffene Welt. Und zwar explizit in ein Viertel, das dem Autor nicht nur aus den Kindheitserinnerungen seines Vaters bekannt ist.

Der Roman „Siebentürmeviertel“ erscheint am 17. 8. bei Kiepenheuer & Witsch

Auch als die Eltern gerade frisch vermählt und Zaimoglu noch ein Baby war, lebten die Mutter, zwei Onkel, Großeltern und der kleine Feridun im Keller eines Hauses in der Haci-Piri-Straße, an dessen Stelle nun ein kleiner, himmelblau gestrichener Betonklotz steht. Der Vater arbeitete bereits in Ludwigshafen beim Chemiekonzern BASF und schickte Geld nach Hause.

Als die Mutter 1965 mit dem Sohn schließlich folgen durfte, um als Akkordarbeiterin bei Telefunken anzufangen, war sie heilfroh. „Denn für sie war es das Ende der Armut“, sagt Zaimoglu, der damals gerade erst knapp ein Jahr alt war. „Diese Straße ist für meine Eltern immer auch die Gasse des Elends gewesen.“

Im Schatten des Bahnhofs von Yedikule, der seit zwei Jahren außer Betrieb ist, stehen fünf Plastikhocker. Sie gehören zu dem Männercafé auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Wirt serviert türkischen Mokka, medium gezuckert. Ein paar Gäste schlendern neugierig herüber, um die Fremden zu begrüßen.

Der Mann mit dem ergrauten Schnurrbart sagt, man nenne ihn Kurdistan. Sein Freund mit dem kugelrunden Bauch, dessen Gattin freundlich vom Balkon winkt, stellt sich als Armenier vor. Man schimpft gemeinsam über die Regierung, bestellt eine Runde schwarzen Tee. Zaimoglu erzählt von seinem Roman, dann erkennt ihn ein Dritter und sagt: „Dein Türkisch ist ja viel besser geworden!“

Vor dreieinhalb Jahren war Zaimoglu zum ersten Mal hier, um mit der Recherche zu beginnen. Es folgten noch einige Reisen zwischen Kiel – wo Zaimoglu seit dreißig Jahren lebt – und Istanbul. Jedes Mal über den Landweg, denn er leidet unter Flugangst.

Im Stadtarchiv fand der Autor heraus, was man zu der Zeit, die er im Roman schildert, trug, welche gesellschaftlichen Anlässe es gab. Im Viertel interviewte er Bewohner, glich das Gesagte mit den Erzählungen seines Vaters ab, sah Gardinen dabei zu, wie sie sich im Wind bauschten. „Das sind Informationen, die kann mir Google niemals liefern“, sagt Zaimoglu, der weder Computer noch Smartphone besitzt. Er schreibt auf Schreibmaschine, er versendet per Fax.

Scharfzüngige Feministin

Als der Muezzin am Nachmittag zum Gebet ruft, erzählt der Schriftsteller, er sei als Jugendlicher eine Zeit lang sehr gläubig gewesen. Er trank nicht, betete und fastete an Ramadan – irgendwann brach er damit. Auch im Roman spielt Religion eine Rolle.

Christen, Juden und Muslime koexistieren relativ friedlich im Viertel, bis die sogenannten Frömmler zunehmend an Einfluss gewinnen. Noch heute stehen in Yedikule mehr Kirchen als Moscheen. Das ist bemerkenswert, geht die Rhetorik der AKP-Regierung doch grundsätzlich von einer homogenen, ausnahmslos sunnitischen Bevölkerung aus.

Zaimoglu winkt ab: „Man nutzt hier die Religion, um den Menschen das Denken abzugewöhnen und gleichzeitig eine neoliberale Politik zu machen. Das hat mit Glauben nichts zu tun.“ Zugleich aber weiß Zaimoglu, dass man auch ihn als Reaktionären lesen kann – auch wenn er selbst den Begriff „Melancholiker“ bevorzugt.

„Ich mag den schrillen Lärm und die ideologische Verfasstheit der Aufklärer nicht. Ständig heißt es, es sei gut, das Alte zu überwinden. Aber hinterfragt wird das kaum“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

„Die großbürgerlichen Religionskritiker etwa, sie bauen eine Hierarchie, an deren Spitze sie sich selbst sehen. Sie verschleiern aber die Tatsache, dass denen da unten meistens nichts anderes bleibt, als an Wunder zu glauben.“

Sätze wie dieser fließen so elegant und beiläufig aus Zaimoglus Mund, als seien sie vorgefasst und vom Papier aufgesagt. Überhaupt legt der Schriftsteller großen Wert auf seine Umgangsformen. Alle Anwesenden werden von ihm ständig mit Höflichkeiten überhäuft, er entschuldigt sich für jedes potenzielle Missverständnis im Voraus.

Frauen lässt er etwa grundsätzlich nicht auf der Straßenseite ins Taxi einsteigen. „Ich gehöre zur alten Schule, ich kann nicht anders. Halten Sie mich bitte nicht für einen Macho!“ Letzteres ist ein Image, das man Zaimoglu in der Presse immer wieder mal aufdrückte.

Dabei zeigen nicht zuletzt die untypischen Figuren in „Siebentürmeviertel“, dass ihm nichts ferner liegt, als Frauen auf hilfsbedürftige Charaktere zu reduzieren. So beschert etwa die Figur Derya, Pflegeschwester von Wolf, als scharfzüngige Feministin stets einen kritischen Blick auf das soziale Gefüge – und zwar in einer Zeit, in der Frauen in der Öffentlichkeit grundsätzlich schwiegen.

Männer und Dachratten

Auch Sexualität erhält in der Erzählung einen Raum, der jenseits von gesellschaftlichen Tabus ein geheimes Eigenleben entwickelt. „Schauen Sie, da oben gibt es keine Lücken zwischen den Dächern“, sagt Zaimoglu und deutet auf eine Häuserreihe. „Das war der Weg, über den entzündete Männer zu ihren Geliebten fanden. Den Kindern erklärte man den Lärm mit Dachratten.“

Zaimoglu nimmt seine Hippietasche und verabschiedet sich, am nächsten Tag wird er den Bus zurück nach Kiel nehmen.

Ob er nicht Urlaub mache? Nein, niemals. Zum Entspannen sperre er sich höchstens mal ein paar Tage ein und male. Harmonie sage ihm nichts.

Und zum Schreiben bedarf es nicht Harmonie?

„Schreiben ist Krieg“, sagt er entschieden. Monatelang kämpfe er und zerhacke sich, habe Albträume, während er an einem Roman arbeite. „Und nach der letzten Zeile kann ich mich keine Stunde freuen, bis sich wieder das Gefühl der Lebensuntauglichkeit einstellt. Das ist ja voll bescheuert!“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.