Porträt Manuel Neuer: Humorlose Professionalität

Argentinien hat Lionel Messi. Die Deutschen haben Manuel Neuer, den Messi unter den Torhütern. Ein Mann mit zwei Gesichtern.

Manuel Neuer, gezeichnet von Max Wallraff (drei Jahre). Bild: taz

Temperaturen kann man regulieren. Im Auto zum Beispiel. Relativ exakt, so warm oder kalt, wie man es eben haben möchte. Mit dem Temperament ist das schwieriger. Aber Manuel Neuer scheint über einen Drehknopf zu verfügen, mit dem er seinen Emotionspegel genauestens steuert. Bemerkenswert ist diese Ruhe, mit der er sich auch bei dieser Weltmeisterschaft auf seine Arbeit vorbereitet. Auf den Stadionbildschirmen sieht man ihn oft weit vor dem Spiel in den Katakomben stehen, wie er sich mit großer Sorgfalt seine Torwarthandschuhe überzieht und die Klettverschlüsse prüft.

Während seine Kollegen nicht still stehen können, mal hüpfen, mal hier und dort sich die Hose und das Trikot zurechtziehen, wirkt bei Neuer jeder Handgriff routiniert. In etwa so unaufgeregt dürfte auch ein Bürofachangestellter morgens seine Arbeitsmaterialien für den Tag richten. Es ist egal, ob das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien ansteht oder das Freundschaftsspiel Bayern München gegen Rot-Weiss Cuxhaven: Neuer setzt immer das gleiche ausdruckslose Gesicht in den Minuten vor dem Spiel auf. Ein wenig ist das natürlich auch eine Psychomasche. Eine Demonstration seiner Unbeirrbarkeit.

Auf dem Rasen dann, selbst wenn man beim Stand von 7:0 gegen Brasilien nicht die leiseste Idee hat, worüber man sich nun noch aufregen könnte, schwillt plötzlich Neuer unvermutet der Kamm. Wegen eines etwas zu lässigen Abwehrversuchs von Jérôme Boateng wäre beinahe das erste Gegentor gefallen. Und Neuer ist völlig außer sich ob dieser Fahrlässigkeit. Es ist eine Art von Professionalität, die sehr humorlos wirkt.

Diese emotionalen Ausbrüche erlaubt sich Neuer aber nur auf dem Platz. Und das unterscheidet ihn von den meisten seiner Zunft. Torhüter, die stets einem großen Druck ausgesetzt sind, neigen oft zu Kompensationshandlungen – zu unbeherrschten Aussagen. Man denke nur an Neuers Vorgänger Jens Lehmann und Oliver Kahn, die sich auch als Großmäuler einen Namen gemacht haben. Neuer ist jedoch keiner, der mit Worten protzt. Höchstens seine Körpersprache könnte man ihm als angeberisches Statement auslegen. Aber das ist eine Geschmacksfrage. Zweifellos scheint aus jeder Hautpore von Neuer Selbstvertrauen zu fließen.

Gefühle heruntergedimmt

Wenn der 28-Jährige nach seinen Wutausbrüchen auf dem Platz in der Mixed Zone steht, hat er seine Gefühle wieder heruntergedimmt. „Das war herausragend, dennoch dürfen wir uns nicht von dem Ergebnis blenden lassen“, sagte er nach dem Jahrhunderthalbfinalsieg gegen Brasilien. Im Finale ginge alles wieder von vorne los. Die Tagesform würde dann wieder entscheiden. Sachlicher und nüchterner geht es wohl kaum in einem solch historischen Moment.

Es fällt schwer, sich heute vorzustellen, dass der Kontrollfreak Manuel Neuer mal ein heißblütiger Fußballanhänger war. In seinen jungen Jahren stand er in der Schalker Nordkurve als Mitglied der Ultra-Gruppe „Buerschenschaft“. Emotionen waren damals sein täglich Brot. Sein Wechsel zu Bayern München wurde ihm dort sehr verübelt, weil man sich ihn beim Vorzeigeklub Deutschlands so gar nicht vorstellen konnte. Doch inzwischen weiß man: Er passt dort ins Gefüge der Leistungselite wie kaum ein anderer.

Seine Ansprachen haben schon fast etwas Präsidiales. Nur beim Feiern vor der Fankurve bekommt man noch eine Ahnung davon, wo dieser Neuer eigentlich herkommt. In diesen Momenten widmet er sich so intensiv wie nur wenige andere deutsche Spieler dem Kontakt mit den Fans. Ein einziger klitzekleiner Fehler ist ihm in diesem Turnier unterlaufen. Im ersten Spiel, als man gegen Portugal eh schon mit 4:0 in Führung lag, missriet ihm ein Abwurf slapstickartig. Dass ihn so ein Fauxpas nicht aus der Reihe bringt, gehört auch zu den Stärken von Neuer. Seitdem wird er von allen Seiten gelobt. Von Spiel zu Spiel.

Elfter Feldspieler

Als Torhüter mit hervorragenden Reflexen und als elfter Feldspieler, der ballgewandt die Schnitzer seiner Vorderleute ausbügelt. Selbst beim einseitigen Spiel gegen Brasilien konnte er glänzen, weil die deutsche Abwehr zeitweise etwas weniger konsequent arbeitete. Manuel Neuer könnte so etwas nicht passieren. So mahnt er jetzt auch vor dem Finale: „Wir haben noch nichts erreicht, weil wir dieses eine Spiel noch vor der Brust haben.“ Man müsse die Ruhe bewahren und dürfe jetzt nicht zu euphorisch sein.

Gewinnt die deutsche Mannschaft den WM-Titel, dann wird man vermutlich wieder die beiden Neuers sehen. Den einen, der vor der Fankurve tanzt, und den anderen, der Staatstragendes von sich gibt. Das bekommt er gewiss wieder geregelt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.