Porto regt sich: Sardine in süßem Honig
Retten die Billigflieger die Altstadt Portos vor dem Verfall? Junge Gründer und Touristen bringen Arbeit und Glanz in alte Viertel.
Seit Jahrhunderten bauen die Portuenser Wohnhäuser, barocke Kirchen und Stadtpaläste in die vom Fluss aufsteigenden Hänge: Schichten von Geschichte in einer Collage aus leuchtend roten Ziegeldächern und mit Azulejo-Fliesen und bunten Wäschestücken geschmückten Granitfassaden. Aus Dächern sprießen üppige Farne und Blumen, aus der Gesamtkulisse mächtige Kirchtürme, auf denen wuchtige Steinkreuze thronen.
Über dieser einst reichen Kaufmanns- und Bürgerstadt sitzt wie eine Krone der Palast des Bischofs mit feinstem Blick auf das weite Tal des Douro, der sich wenige Kilometer flussabwärts dem tosenden Atlantik öffnet. Die Feuchtigkeit des Ozeans taucht die Altstadt in weiches Licht. Sonne und Wolken schöpfen daraus ständig wechselnde Farben – mal Bleigrau, dann wieder Gold oder ein kräftiges Blau. Morgens verhüllen Nebelschleier Kirchtürme, Mauern und Paläste.
Candido Venceslao ist in Portos ältestem und ärmstem Quartier verwurzelt: in São Nicolau, dem Kern des Altstadtviertels Ribeira. „Niemand stellte einen von uns ein“, erinnert sich der 66-Jährige an seine Jugend. „Nicht mal als Kellner oder Hilfsarbeiter wollten sie uns.“ Das Haus seiner Kindheit hat sich in all den Jahren kaum verändert: dunkle bleigraue Fassade, eine schwere hölzerne Eingangstür: „Wir haben zu acht in einem vier mal zwei Meter kleinen Zimmer gewohnt, kein Licht, kein Strom, keine Küche, kein Bad“, erzählt Candido. Seine ruhige, leise Stimme übertönt kaum den Regen, der auf seinen Schirm prasselt.
Das Bett unter der Treppe teilte er sich mit zwei Brüdern. „Wenn ich zum Nachttopf wollte, mussten alle aufstehen. Viele seien krank geworden, hätten in den ständig feuchten Wohnungen Tuberkulose bekommen. „Arm waren wir alle, aber das wenige haben wir geteilt.“
Am Hafenkanal
Seine Geschichte erzählt der Rentner auf den Percursos das Memórias, den Rundgängen der Erinnerung. Mit zwei Kolleginnen organisiert Mafalda die Touren und übersetzt die Erzählungen der Anwohner ins Englische oder Spanische. Unterwegs besuchen sie die Nachbarn in ihrem Alltag: kleine Läden, die Werkstatt eines alten Mannes, der Schiffsmodelle baut, oder den Sportverein.
Am einstigen Hafenkai vor dem Vereinsraum haben neue Lokale aufgemacht. Die Restaurants am Wasser sind voll. Ihre Lichter spiegeln sich im Fluss. Die Holzboote, mit denen die Winzer einst ihren Wein den Douro herunter in die Kellereien der Stadt schafften, ruhen jetzt, mit Fässern geschmückt, als Dekoration am Ufer.
Mathilda, Guide
„Hier war eine Bar, vor der sich jeden Morgen die Tagelöhner versammelt haben“, erzählt Candido. Wer Glück hatte, wurde für einen Job mitgenommen. Abends trafen sie sich alle wieder in der Kneipe. Allein „hier unten hatten wir sieben Bars und Cafés und vier Lebensmittelgeschäfte. Alle weg“ – wie die meisten seiner ehemaligen Nachbarn.
Die meisten Gebäude in São Nicolau hätten früher der Stadt gehört. Diese habe sie an Investoren verkauft. „Wir kennen die Hausbesitzer nicht mehr. „Es sind Fonds und andere anonyme Gesellschaften“, beklagt Candido, der bleiben will. „Es ist die Keimzelle Portos. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.“
Das verwunschene Bücherparadies
Jenseits der Innenstadt führt Matilda durch einen der schönsten Buchläden Europas, die Libreria Lello. Wie viele junge Portugiesen hat sie nach dem Tourismusstudium keinen Job gefunden. Dann brauchte Lello Verstärkung. Matilda bekam ihre Chance. Seit zwei Jahren wollen jeden Tag an die 4.000 Touristen das Bücherparadies mit der geschwungenen roten Freitreppe und den drei Etagen hohen wandfüllenden verschnörkelten Regalen sehen.
Durch das mit Jugendstilmotiven bemalte Glasdach fällt weiches Licht. Um den Ansturm zu bewältigen, verkaufen die Buchhändler online Eintrittskarten mit aufgedruckten Besuchszeiten für drei Euro pro Person. Wer im Laden einkauft, bekommt das Geld erstattet. Mit den Einnahmen haben sie schon die Fassade ihres 1906 im neugotischen Stil erbauten Hauses renoviert.
Matilda organisiert den Ticketverkauf und Führungen durch den Buchladen, der angeblich J. K. Rowling Inspirationen für den ersten Harry-Potter-Band geliefert hat. „Wir haben sie danach gefragt, aber keine Antwort bekommen“, erzählt Matilda.
Porto entdecken: Im Zuge des Tourismusbooms gründen junge Leute immer mehr Agenturen, die geführte Thementouren in der Stadt anbieten. Beliebt sind (Port-)Wein, Essen und Architektur: Auf den Percursos das Memorias (Rundgänge der Erinnerungen) führen Einheimische durch ihre Wohnviertel. facebook.com/percursodasmemorias oportocool.wordpress.com
Von unten: Auf seinen Worst Touren führt Pedro zu Fuß durch einstige Industrieanlagen und Arbeiterwohnheime, vorbei an verschnörkelten Villen aus dem frühen 20. Jahrhundert und durch Hinterhöfe am Nordrand der Innenstadt, die sonst nie ein Tourist findet, theworsttours.weebly.com
Kulinarisch: Die Blue Dragon Food and Wine Tours bringen ihre Gäste zu weniger bekannten Lokalen und in traditionelle Lebensmittelgeschäfte, auf den Spuren einheimischer Spezialitäten und Besonderheitenwww.bluedragon.pt
Innovativ: Portgall-Gründer Luis macht Touren, die zum Beispiel auf einen Bio- und Kräuterbauernhof am Stadtrand oder in eine Portweinkellerei führen. Auch auf dem Programm: die Geschichte der Kirchen und die Bedeutung der Bilder und Heiligenfiguren auf einer Religionstour. Ein Biologe zeigt auf einer Radtour ans Meer die Tier- und Pflanzenwelt der Region. www.portgall.com
Info: www.visitporto.travel.de
„Viele meiner Freunde waren arbeitslos“, erzählt die 30-Jährige. „Jetzt haben einige eine Weinbar oder ein Hostel aufgemacht und können davon leben.“ Andere fahren Besucher mit Tuk-Tuks durch die steilen Altstadtgassen oder bieten Gästegruppen komplette Tourenpakete an.
Kulinarische „Food and Wine Tours“ führen in historische Lebensmittelgeschäfte und Weinbars mit Verköstigungen. Unterwegs spricht man mit Köchen und Ladenbesitzern, probiert Portwein, Wachteln oder ausgefallene Neukreationen wie Sardinen in Honig des Fischkonservengeschäfts La Conserveria.
Armenküchen und Luxushotels
Luis Campos organisiert mit seine Agentur Portgall von Schauspielern gestaltete Thementouren oder geführte Ausflüge zu einem Biobauernhof. Auf einer anderen Tour können die Gäste mit Einheimischen in einem Bergdorf Brot backen.
Matilda wohnt in der einst finsteren Blumenstraße. Die Stadt hat aus der Rua das Flores eine schicke Fußgängerzone gemacht: neues Pflaster, moderne Straßenlaternen, renovierte Fassaden. Ein verfallender Adelspalast aus dem 16. Jahrhundert wird zu einem weiteren Luxushotel umgebaut. Die meisten alten Läden und Cafés haben schon aufgegeben.
340 Euro Miete zahlte die Tourismusmanagerin hier anfangs für ihre 2-Zimmer-Wohnung: große Wohnküche, Schlafzimmer, ein kleiner Balkon mit weitem Blick bis hinunter zum Fluss, fast fünf Meter hohe stuckverzierte Decken, abgeschliffene Holzdielen. Nach der Renovierung erhöhte der Hausbesitzer auf 600 und nun auf 900 Euro, etwa das Gehalt eines Berufsanfängers mit Uniabschluss in Portugal. Die Wohnungen vermietet er jetzt tage- und wochenweise an Touristen.
Spuren des alten, noch nicht renovierten Porto finden sich in den Gassen unterhalb des Batalha-Platzes. In der einst wegen der Drogendealer und anderer Krimineller berüchtigten Rua de Cimo da Vila sammeln sich jeden Vormittag abgerissene Gestalten vor einer Kirche: eine Armenküche. Nebenan wartet eine Prostituierte auf Kundschaft. An einer finsteren Kneipe brennt eine rote Laterne. Auch hier vermietet ein Hauseigentümer seine Erdgeschosswohnung übers Internet an Touristen.
Liliana, Jahrgang 1976, hat die Altstadt noch vor der Sanierung erlebt. Als sie 20 war, gab ihre Familie das alte Haus ihrer Kindheit auf. „Der Vermieter hat nichts renoviert.“ Der Bau verfiel. Immer mehr Nachbarn zogen weg. Bald gab es in der Innenstadt nur noch Büros, Banken und Versicherungen.
Seit die Touristen nach Porto strömen, wird gebaut und saniert. Die Immobilienpreise haben sich in den letzten sechs Jahren zum Teil mehr als verdoppelt. Alte Krämerläden werden zu teuren Gourmetshops umgebaut. Wie Liliana befürchten viele, dass sich Portos Altstadt in ein totsaniertes Freilichtmuseum verwandelt. „Wir müssen den Markt regulieren“, findet die energische junge Frau mit dem langen braunen Haar. Die Sozialarbeiterin will eine Stadt für alle: Deshalb hat sie mit jungen Architekten und anderen Engagierten Habitar Porto gegründet. Der Verein will günstige Wohnungen erhalten.
Die Seele der Stadt: Portos wilder Osten
In den ehemaligen Arbeitervierteln Campanha und Bonfim am Ostrand der Innenstadt stehen noch viele Häuser leer. Bauten aus massivem Granitstein, verziert mit den traditionellen handgemalten portugiesischen Kacheln, den Azulejos, stünden anderswo längst unter Denkmalschutz.
„Wir beraten Eigentümer, die nicht genug Geld haben, ihre Gebäude zu sanieren“, erklärt Liliana. Habitar Porto hilft ihnen, staatliche Zuschüsse zu beantragen, und vermittelt Architekten und Handwerker. Einen Hinterhof oder eine Waschmaschine können sich Nachbarn teilen, um Kosten zu sparen. Andere kaufen gemeinsam ein Haus und bauen es so um, dass beide Familien darin wohnen können. Oft helfen Studenten oder Ausbildungsfirmen zu günstigen Preisen beim Umbau. Reicht das Geld trotzdem nicht, legen Anwohner mithilfe des Vereins zusammen. „Wir wollen bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen, keine Gettos für die ganz Armen“, erklärt Liliana.
Hinter den Fassaden vieler Straßenzüge in Portos Osten verbergen sich von außen unsichtbare Welten: Die Ilhas, zu deutsch Inseln. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert bauten Fabrikanten auf dem Werksgelände Reihen winziger Arbeiterhäuser für ihre Belegschaft. So wohnten die Arbeitskräfte in der Nähe. Die Miete konnte man ihnen gleich vom Lohn abziehen.
Die Fabriken, meist Textil- oder Metallbaubetriebe, sind längst aufgegeben, die Ilhas geblieben. Zwischen zwei Häusern geht es durch eine brüchige Holztür in einen Gang. Zu beiden Seiten des Wegs ducken sich flache, einstöckige Häuschen aneinander. Zehn von siebzehn stehen leer: drinnen ein dunkler feuchter Raum von etwa 15 Quadratmetern. „Hier haben früher sechs- und achtköpfige Arbeiterfamilien gewohnt“, erzählt Liliana. Strom oder fließendes Wasser hatten die wenigsten. Habitar Porto hilft den Bewohnern, ihre Ilha zu sanieren. Viele wollen bleiben. Sie fühlen sich in der vertrauten Nachbarschaft geborgen.
Tiefere Einblicke in die Baugeschichte Portos und die heutige Stadtplanung gibt Architekt Pedro auf einer seiner „Worst Tours“. Hinter einer der leer stehenden Fabriken gedeiht Gemüse auf einem kleinen Feld. Die Nachbarn haben einen Gemeinschaftsgarten angelegt. Der Eigentümer hat den 80 Mitgliedern der Initiative das Grundstück kostenlos überlassen. Er sei froh, dass wieder Leben in die ehemalige Fabrikarbeitersiedlung kommt. Auch hier oben verfallen verlassene Häuschen und Wohnungen.
Debatten über die Zukunft der Stadt
Pedro liebt Porto, das Gesamtkunstwerk an den Hängen des Douro. Den Tourismusboom sieht er wie Liliana, Mafalda und viele andere mit gemischten Gefühlen. Einerseits freut sich der 40-Jährige über die Möglichkeit, als Architekt mit den Führungen Geld zu verdienen. „Das klamme Rathaus macht alles, was kurzfristig Einnahmen bringt“, unterstütze aber Produktionsbetriebe, Handwerk und die Kreativwirtschaft zu wenig. Seit die Textil- und die Metallindustrie abgewandert sind, produziere der Norden Portugals kaum noch etwas.
Doch die Zeiten ändern sich: Junge Leute gründen Betriebe, die mehr anbieten als Massenproduktion. Start-ups liefern ihre Software erfolgreich ins Ausland, andere entwerfen Mode, die sie vor Ort mit Gewinn verkaufen. Pedro will „Debatten über die Zukunft“ seiner Stadt anregen. Er erzählt von Einkaufszentren aus den 70er und 80er Jahren. Die seien pleitegegangen, weil weiter draußen größere und modernere Malls eröffnet wurden. Einige Eigentümer vermieten jetzt leer stehende Geschäfte und Lagerräume als Probenräume an Musiker oder – wie an der Galerienmeile Miguel Bombarda – an Künstler und Galeristen.
„Invicta“, die Unbesiegte, nennt sich Porto. Nie haben fremde Truppen die Stadt erobert. Sie hat die Belagerungen der Spanier und durch Napoleons Armee abgewehrt, die Verarmung während der Diktatur und der letzten Wirtschaftskrise überstanden. Nun muss sie den Touristenansturm lenken.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!