Poptheoretiker Fisher über Wahl in UK: „Wir müssen uns organisieren“
Sorgt die politische Alternativlosigkeit für eine neue Wirtschaftskrise? Mark Fisher, Autor und Poptheoretiker, über Großbritannien kurz vor der Wahl.
taz: Herr Fisher, wer wird nach dem 7. Mai in Großbritannien an der Macht sein?
Mark Fisher: Schwer zu sagen. Keine der großen Parteien liegt in den Umfragen vorne. Vermutlich werden wir eine Minderheitsregierung haben, bei der Labour auf die Stimmen der Scottish National Party angewiesen ist. Aber wegen den „schüchternen Tories“ – Wähler der Konservativen, die das in Umfragen nicht zugeben wollen – kann es sein, dass die Tories einen knappen Sieg erreichen.
Sie haben den Stil der Blair-Regierung als „kapitalistischen Realismus“, als Verlängerung des Thatcherismus unter sozialdemokratischen Vorzeichen, beschrieben. Wie verhält sich die Cameron-Regierung im Vergleich dazu?
Blairs Mission war es, die Labour-Partei davon zu überzeugen, dass es keine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus gibt. Er entmachtete die Basis und drängte den Einfluss der Gewerkschaften zurück. Der offensichtliche Unterschied zwischen Cameron und Blair ist die Austeritätspolitik: Kürzungen bei den Sozialleistungen, eine Verdreifachung der Studiengebühren. Die für Sozialleistungen notwendige Prüfung des Status von Behinderten wird jetzt nicht mehr von Medizinern durchgeführt, sondern von einem privaten Unternehmen. Deren Gutachten haben schon zu einigen Selbstmorden geführt. All das geschah unter der Prämisse, dass „nicht genügend Geld“ da sei. Das Auftreten des „kapitalistischen Realismus“ hat sich seit der Finanzkrise geändert. Vorher war er triumphalistisch: Akzeptiert den Neoliberalismus oder geht unter. Das neue Auftreten wird am besten durch David Camerons Slogan „We’re all in this together“ zusammengefasst, was im Angesicht seiner Politik zugunsten der Superreichen natürlich lächerlich ist.
Aber Cameron war doch immer der Konservative, der einer von uns ist. Er kannte sich aus mit Pop, er mag The Smiths, er machte Witze. Hat sich das in den letzten fünf Jahren geändert?
Es ist natürlich absurd, dass man jemandem mit dem Vermögen von David Cameron abkauft, „einer von uns“ zu sein. Da sieht man nur, wie sehr Klassenfragen durch den kapitalistischen Realismus an den Rand gedrängt wurden. Die Leichtigkeit von Cameron ist die Leichtigkeit seiner Privilegien. Er ist ein alter Etonian, ebenso wie der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, sein potenzieller Nachfolger. Mit seinem Akzent, seiner Körperhaltung und seinem Grinsen verbreitet Cameron eine konsistente Botschaft: Entspannt euch, ich habe die Dinge unter Kontrolle. Jetzt hat er aber einen Fehler gemacht. Er hat immer behauptet, Fan von Aston Villa zu sein, im Wahlkampf war dann auf einmal West Ham sein Lieblingsverein. Das ist vielleicht trivial, aber es verrät, dass „Call me Dave“ nur eine Persona vom Reißbrett war.
Die kleinen Parteien – Ukip (UK Independence Party), die Grünen und die SNP (Scottish National Party) – werden in dieser Wahl vermutlich entscheidend sein. Woher kommt ihr Erfolg?
Ukip hat sich erfolgreich als eine Alternative zum Konsens in Westminster verkauft, dabei bleibt die Partei innerhalb des kapitalistischen Realismus. Sie verbinden Neoliberalismus und Nationalismus. Wie Cameron ist auch Ukip-Chef Nigel Farage reich, er war mal Aktienhändler. Ein Großteil von Ukips Erfolg ist den Medien geschuldet, die ihn verhätschelt haben. Farage hat eine kumpelhafte Persona mit Bier und Zigarette kultiviert und strahlt eine leutselige Jovialität aus, die im Kontrast zur roboterhaften Steife britischer Politiker steht. Der Erfolg der SNP ist ein Resultat der Kampagne für schottische Unabhängigkeit. Seitdem sind dort die Mitgliederzahlen in allen Parteien gestiegen. Nicola Sturgeon von der SNP ist gemeinsam mit Natalie Bennett von den Grünen und Nigel Farage bei zwei TV-Debatten aufgetreten – dort wirkte Farage wie der Populist von gestern. Sturgeons Auftritt dagegen zeigte, dass es eine Alternative zur Austeritätspolitik gibt. Auf einmal haben sich auch englische Wähler gefragt, warum sie nicht die SNP wählen sollten.
lehrt am Goldsmiths, University of London, sowie an der University of East London Philosphie und Visual Cultures. Er schreibt unter anderem für The Wire, The Guardian, Film Quarterly und frieze. Gerade ist sein viel gelobtes Buch „Die Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und der Verlust der Zukunft“ auf Deutsch erschienen (Edition Tiamat, übersetzt von Th. Atzert, 256 S., 20 Euro).
Welche Auswirkungen hat das auf Labour?
In Schottland wird Labour massiv verlieren, also brauchen sie die SNP. Labour wird also nach links rücken müssen. Ich denke, die Politisierung in Schottland ist ein Zeichen für ein mögliches Ende des kapitalistischen Realismus. Die Schwäche von Labour gegenüber den Banken war ja, dass sie keine populäre Bewegung hinter sich hatten. Die Frage ist jetzt, ob sie den politischen Enthusiasmus in Schottland aufgreifen können. Gelingt das nicht, sehe ich keine langfristige Zukunft für Labour.
Die Riots vom Sommer 2011 sind weitgehend in Vergessenheit geraten – auch nun im Wahlkampf. Im Rückblick, welches waren die Ursachen dafür?
Die unmittelbare Ursache war, dass ein junger, schwarzer Brite von der Polizei erschossen wurde und dafür – wieder einmal – kein Polizist bestraft wurde. Aber das spielte sich vor dem Hintergrund einer weitgehenden Entrechtung weiter Teile der Bevölkerung ab, besonders junger Menschen und ethnischen Minderheiten. Die Rechte hat die Riots als Explosion der Kriminalität beschrieben, aber es ging dabei eher um eine Unzufriedenheit, die nicht zu einem effektiven politischen Ausdruck werden konnte.
Wie hat die Politik darauf reagiert?
Die Riots waren gefährlich, also hat die Rechte schnell versucht, sie einzugrenzen – mit drakonischen Strafen und Schnellgerichten. Damit sollte eine soziale Realität wiederherstellt werden, die durch die Riots ins Wanken geraten war. In den Wochen vor den Riots hatte man den Eindruck, dass das britische Establishment unsicher war. Es gab große Studentenproteste, und der Murdoch-Abhörskandal hatte ein Netzwerk aus Korruption zwischen Medien, Politikern und der Polizei ans Tageslicht gebracht. Nach einer Woche Riots hatte die Rechte die Kontrolle wiedererlangt.
Sie behaupten, dass im kapitalistischen Realismus die politische Alternativlosigkeit mit einem hohen Maß an Depressionen einhergeht. Wird dieses Problem von sozialen Bewegungen oder Parteien aufgegriffen?
In Schottland gibt es eine linke, gewerkschaftsnahe Gruppe namens Common Weal, die der Ansicht ist, dass Angststörungen ein existenzielles Problem sind und die deshalb für ein Ende des Niedriglohnsektors und ein Bürgergeld kämpft. Ich denke, wir stehen gerade am Anfang eines neuen politischen Kampfs. So viele Menschen sind depressiv und selbst die, die es nicht sind, erwarten keine bessere Zukunft. Falls diese allgegenwärtige Unzufriedenheit politisiert wird, könnte das viel bewirken.
Und wie passt Russell Brand in diese politische Landschaft? Er ist ja vom Comedian zu einem wichtigen politischen Kommentator geworden.
Brand tut, was eigentlich Aufgabe einer linken Partei wäre: Er bringt soziale Kämpfe zusammen. Er hat seine Popularität und sein Geld dafür genutzt, etwa für eine erfolgreiche Kampagne zum Erhalt von Sozialwohnungen in Ost-London. Brand nutzt sein Insiderwissen aus dem Mediengeschäft, um aufzuzeigen, wie dort eine bestimmte Realität konstruiert wird. Und er tut das in den Massenmedien, in den sozialen Netzwerken und auf YouTube. Dadurch ist er eine Gefahr für die traditionell rechten Massenmedien geworden. Blairs Spindoktor Alastair Campbell hat letztens gesagt, dass Brands Stimme wichtiger sei, als was in der Times oder der Sun steht.
Brand hat zunächst zum Nichtwählen aufgerufen.
Es ist schwer, nicht mit seiner Haltung zu sympathisieren: Brand sagt ja nicht, dass man nicht wählen soll, sondern dass sich nur durch Wählen allein keine fundamentalen Veränderungen erreichen lassen. Die Menschen müssen sich organisieren, wir müssen unser Leben wieder in die Hand nehmen. In Griechenland sieht man ja, dass man den kapitalisitischen Realismus nicht einfach abwählen kann. Aber zugleich darf die Linke das Parlament nicht aufgeben. Wie Brand die Massenmedien nutzt, ohne wirklich ein Teil davon zu sein, kann auch ein Vorbild für linke parlamentarische Politik sein. Genau das passiert gerade in Schottland, Griechenland und Spanien. Genau das ist es, was diese Entwicklungen so interessant macht.
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