„Popcorn ist bei uns verboten“

Berlinale Sie sorgt für die allererste Kinobegeisterung bei den Kleinen. Maryanne Redpath leitet bei den Filmfestspielen die Sektion Generation und weiß, dass die jungen Zuschauer auch mit Sachen klarkommen, mit denen manche Erwachsenen schon ihre Schwierigkeiten haben

Für den Kinonachwuchs da: Maryanne Redpath im Epizentrum des Berlinale-Geschehens am Potsdamer Platz Foto: David Oliveira

InteRview Plutonia Plarre

taz: Frau Redpath, Sie sind Leiterin der Sektion Generation, dem Kinder- und Jugendprogramm der Berlinale. Ab welcher Altersgruppe geht es bei Ihnen los?

Maryanne Redpath: Wir haben ein Programm für Kinder ab vier Jahren. Für die ganz Kleinen. Oft ist es ihr allererstes Kinoerlebnis.

Wie muss man sich das vorstellen?

Im Haus der Kulturen der Welt sitzen dann bei der Vorführung fast 1.000 Vier- und Fünfjährige. Sie kommen mit der Gruppe. Man spürt die Aufregung. Es ist eine ganz tolle Atmosphäre. Die jungen Zuschauer kommen danach total begeistert aus dem Kino.

Wie lange dauert so eine Aufführung?

Bei den ganz Kleinen sind das höchstens 50 Minuten. Das ist ein magischer Moment in ihrem Leben. Deswegen sorgen wir dafür, dass es ein tolles Kinoerlebnis wird. Kleine Kinder glauben, dass das, was sie da auf der Leinwand sehen, die Realität sei. Sie können da noch nicht differenzieren. Deswegen bin ich auch sehr vorsichtig, was wir ihnen zeigen.

Die Sektion Generation unterteilt sich in die Altersgruppe 4 bis 14, Kplus genannt, und 14plus. Wie werden die Filme mit den Kids aufbereitet?

Wie bei der Berlinale üblich, bieten auch wir ein ganzes Paket an: Die Filmemacher sind da und auch viele der Schauspieler. Nach dem Film können Fragen gestellt werden, es findet eine Auseinandersetzung statt. Es wird nicht einfach nur ein Film mit einer Tüte Popcorn angeboten. Meine Erfahrung ist: Sie nehmen das voll auf. Popcorn ist bei uns übrigens verboten. (lacht)

Sind junge Zuschauer im Kino laut?

Je nach Film ist das sehr unterschiedlich. In einem stillen Film sind sie meistens sehr still. In einem Film voller Action gehen sie auch mit. Sie sind mit ihrem Feedback sehr direkt. Unsere Erwartung ist nicht, dass sie alle Filme mögen.

Generation zeigt dieses Mal 67 Fil­me aus 35 Ländern. Wie erfolgt die Auswahl?

Das ist ein langer Prozess. Mein Kernteam besteht aus zwölf Leuten. Mit einem Gremium treffen wir aus den Filmen, die bei uns eingereicht werden, eine Auswahl. Dieses Jahr waren es 2.200 Filme. Und wir recherchieren natürlich auch direkt bei Filmemachern, Produktionen und Weltvertrieben und besuchen internationale Filmfestvials. Wir schauen wahnsinnig viel an. Tagein, tagaus. Der Blick wird dadurch geschärft.

Sie sind eine alte Häsin. Seit 1993 arbeiten Sie für das Berlinale-Kinderfestival. Seit 2008 leiten Sie die Sektion Generation …

… ich zähle die Jahre nicht mehr mit. (lacht)

Tritt da nicht Routine ein, um nicht zu sagen, Langeweile und Ermüdung?

Ehrlich gesagt, bin ich froh, wenn etwas zur Routine wird. Aber die Entwicklung geht ja immer weiter. Vor zwölf Jahren kam der 14plus-Wettbewerb da­zu – dann hießen wir Generation. Im digitalen Zeitalter wird ganz anders gearbeitet als früher. Wenn das nicht so wäre, wäre es langweilig. Ich brauche diese Kreativität, diese Erneuerung. Das ist schon immer so gewesen in meinem Leben.

Seit 1978 gibt es bei der Berlinale eine Sektion, die sich speziell Kindern und Jugendlichen widmet: Generation. In zwei Wettbewerben, Kplus (für 4- bis 14-Jährige) und 14plus (für über 14-Jährige) werden in diesem Jahr 67 Filme aus 35 Ländern gezeigt. Von Jahr zu Jahr erfreut sich das Kinder- und Jugendfilmfestival größerer Beliebtheit. 2015 wurden dort 65.000 Zuschauer gezählt. Bei den Filmfestivals in Cannes und Venedig sucht man so etwas vergebens.

Die Filmvorführungen von Generation finden in fünf verschiedenen Spielstätten statt. Die Premieren werden im Haus der Kulturen der Welt sowie im Zoo Palast gefeiert. (plu)

Sie sind gebürtige Neuseeländerin und haben früher selbst einmal Filme gemacht.

Stimmt. Ende der 70er Jahre bin ich von Auckland nach Australien gegangen. Dort habe ich mehrere Jahre als Performancekünstlerin gearbeitet. Ich habe experimentelle Filme gemacht. Die Auseinandersetzung mit Postmodernismus, das war eine tolle Zeit in Sydney. Zusammen mit meinem damaligen Partner und meinem dreijährigen Sohn habe ich irgendwann das Land verlassen, ich war damals 28.

Sind Sie direkt nach Deutschland?

Nein. Wir haben erst einmal eine lange Reise durch Südostasien gemacht. Wir waren neugierig, was es noch so gibt im Rest der Welt. Und wir wollten gucken, woher die Ahnen kommen. Am Ende sind wir in Großbritannien gelandet. Dort haben wir uns irgendwann gefragt, wo es im Moment politisch, geografisch oder auch künstlerisch interessant ist. Das war 1985. Wir hatten Westberlin im Auge und Madrid. Eine Münze hat dann für Berlin entschieden. Wie es dann weiterging, ist eine lange Story.

Dann bitte eine Kurzversion.

1989, als die Mauer fiel, hab ich noch ein paar experimentelle Filme in Berlin gedreht. In dem Jahr habe ich auch noch ein Baby, meine Tochter, bekommen Das war für mich dann der Cut mit der performativen Kunstarbeit. Und dann kam die Berlinale.

Ist es für Ihren Job von Bedeutung, dass Sie selbst Kinder haben?

Für mich persönlich schon. Meine Tochter hat die Arbeit von klein auf begleitet. Aber man muss keine Kinder ­haben, um diese Arbeit machen zu können. Man muss sich für junge Menschen interessieren und begeistern.

Was macht einen guten Film aus?

Es gibt ein unmittelbares Gefühl, das sich einstellt, wenn man einen guten Film gesehen hat. Aber das ist nur ein Aspekt. Es gibt Filme, die wirken tagelang nach, und auch solche, über die man erst mal keine Meinung hat. Die Filme, über die man erst schlafen muss, sind auch sehr interessant. Da findet dann eine regelrechte Reise zwischen Kopf, Herz und Bauch statt. So ist das auch bei der Auswahl der Filme: Manche findet man gut oder unterhaltsam, andere schwierig. Wieder andere sind eine Herausforderung, weil sie anders sind als alles, was man bisher gesehen hat. Das alles findet sich auch im diesjährigen Programm.

Haben Sie einen Favoriten?

Nein. Das kann man sich als Kuratorin nicht erlauben. Aber ich kann Ihnen versichern: Das Programm ist extrem vielfältig und anspruchsvoll. Zum Beispiel zieht sich das Schlafen und Träumen wie ein roter Faden durch das Programm – ob albtraumhafte Szenarien oder Traum als Zuflucht.

„Oft ist es für die Kleinen ihr aller­erstes Kinoerlebnis. Man spürt die Aufregung. Es ist eine ganz tolle Atmosphäre“

Es gibt einen schwedischen Film: „6A“. Der Titel macht neugierig.

Dieser Film läuft im Wettbewerb von 14plus. Ein wirklich außergewöhnlicher Film, der alle Rahmen sprengt. Zuerst denkt man, es sei ein Dokumentarfilm …

Wovon handelt er?

Der Film zeigt einen Elternabend. Alles ist inszeniert, wirkt aber wie aus dem Leben gegriffen oder mit versteckter Kamera aufgenommen. Gegen drei Mädchen steht ein Mobbingvorwurf im Raum. Die Mädchen kommen zunächst kaum zu Wort. Dafür reden die Eltern und die Lehrerin umso heftiger. Keiner spricht Klartext. Am Ende ist nichts gelöst. Das ist ein Lehrstück über schulische Systeme und Kommunikation.

Müssen Kinder und Jugendliche eigentlich genauso um Festivalkarten kämpfen wie das normale Publikum?

Wegen des großen Interesses an unseren Vorstellungen haben wir bereits vor dem regulären Kartenverkauf eine Gruppenkarten-Hotline geschaltet. Bei einer Gruppenbestellung ab fünf Personen kostet das Ticket 2,50 Euro. Die Resonanz ist immer sehr groß, Beim letzten Festival hatten allein wir bei Generation 65.000 Zuschauer.

Was wäre für Sie der Worst Case bei einer Aufführung?

Schlimm ist, wenn etwas mit der Technik schiefgeht. Zum Beispiel, wenn ein Film ohne Ton anläuft.

Ausländische Kinderfilme werden von Einsprechern während der Vorstellung live übersetzt. Wie funktioniert das?

Das ist bei den meisten der Kplus-Filme so. Sie werden mit englischen Untertiteln gezeigt und in Deutsch von Sprechern und Sprecherinnnen eingesprochen. Die sitzen hinten im Saal und sprechen alle Stimmen. Das geschieht aber nicht synchron, sondern versetzt. Damit wird auch die Kunst des Untertitel­lesens geübt. Daneben gibt es in Kplus auch immer wieder Filme, die nicht eingesprochen werden, sondern deutsche Untertitel haben. In Deutschland ist das ja eher unüblich. Die meisten Filme hier sind ja synchronisiert.

Maryanne Redpath

wurde 1957 in Neuseeland geboren und lebt seit 1985 in Berlin. Seit 2008 ist sie Leiterin der Sektion Generation, des ­Kinder- und Jugendfilmfestivals der Berlinale, für das sie seit 1993 arbeitet.

Das ändert sich gerade langsam.

Aber sehr langsam. Uns geht es dezidiert darum, Kinder und Jugendliche an das Lesen der Untertitel heranzuführen. Öfters kommen Erwachsene zu mir und behaupten, die Kinder seien damit überfordert. Tatsächlich kommen die jungen Zuschauer damit ganz gut klar. Das Pro­blem liegt oft bei den Erwachsenen, die ihre eigenen Schwierigkeiten auf die Kinder projizieren.

Können Sie sich vorstellen, noch mal zum Filmemachen zurückzukehren?

Ich glaube, das Kapitel ist beendet. Das Künstlerische und Krea­tive in mir geht in dieser Arbeit voll auf. In der Zeit, als ich mit Film experimentiert habe, dachte ich, ich kann alles machen. Durch die Arbeit hier bei der Berlinale habe ich aber schnell gelernt, dass es hier eine Industrie gibt. Man muss ja auch eine Familie ernähren mit der Arbeit, die man macht.

Filmemachen ist also eine brotlose Kunst?

Ich habe großen Respekt für junge Menschen, die das machen wollen. Aber man muss wahnsinnig hartnäckig sein und sehr fest in seinem Glauben, dass es das Richtige für einen ist. Die Industrie ist so groß! So viele Filme in dieser Welt werden gemacht, die nie gezeigt werden. Das ist natürlich enttäuschend, wird aber glücklicherweise niemals die Kreativen abhalten, Filme drehen zu wollen.

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