Polizist erinnert sich an Räumung der Mainzer Straße vor 20 Jahren: "Die Räumung war schon vorher absehbar"
Für die besetzte Mainzer Straße gab es keine friedliche Lösung - da war sich Rot-Grün vor 20 Jahren einig, sagt Bernd Finger von der Westberliner Polizei.
taz: Herr Finger, Sie waren 1990 beim Ostberliner Magistrat zuständig für Sicherheitsfragen. Wie haben Sie die Räumung der Mainzer Straße erlebt?
Bernd Finger: Kurz vor der Wende war ich Ausbildungsleiter der Berliner Polizei für den Kriminaldienst. Nach dem Mauerfall bin ich als einer der ersten Westbeamten nach Ostberlin entsandt worden, um die Zusammenarbeit mit der Regierung de Maiziere und dem frei gewählten Magistrat zu organisieren. Unsere gemeinsamen Ziele waren die demokratische Umgestaltung und der Dialog mit der Bürgerbewegung an den Runden Tischen. Ich war da also nicht als Polizeibeamter dort, sondern als Leiter der Abteilung Öffentliche Ordnung und Sicherheit im Magistrat der Hauptstadt der DDR.
Bernd Finger, 60, war vor der Wende Ausbildungsleiter der Berliner Polizei für den Kriminaldienst. Nach dem Mauerfall war er der erste Westbeamte im Ostberliner Magistrat. Heute leitet er im Landeskriminalamt die Abteilung Organisierte Kriminalität.
Als die Mauer 1989 fällt, stehen in Ostberlin 18.000 Wohnungen leer. In der Mainzer Straße sollen 13 Häuser abgerissen werden. Nach der Veröffentlichung einer Leerstandsliste in einer Westberliner Szenezeitschrift beginnt im April und Mai die Besetzung der Mainzer Straße. Bis zum Sommer sind 130 Häuser in Ostberlin besetzt.
Der Ostberliner Magistrat übernimmt am 24. Juli die "Berliner Linie" des Westberliner Senats. Über die Häuser, die bis dahin besetzt sind, wird verhandelt. Neubesetzungen sollen geräumt werden.
Mit der Räumung zweier Häuser im Rahmen der Berliner Linie bricht am 12. November 1990 der Häuserkampf um die Mainzer Straße aus. Die Situation eskaliert. Am Morgen des 14. November beginnt einer der größten Polizeieinsätze in Deutschland.
Zwei Tage später, am 16. November 1990, gibt Renate Künast das Ende von Rot-Grün bekannt.
Mit der Besetzung von 130 Häusern war im Sommer 1990 der Höhepunkt der Anarchie erreicht.
Trotz gegenteiliger Behauptungen hatte die alte, real-sozialistische DDR das Wohnungsproblem nicht gelöst. Im Gegenteil: Gerade im Altbau standen viele Wohnungen leer und verkamen in ihrer unsanierten Substanz. Diese wurden erst still, später dann öffentlich besetzt. Das ist also kein polizeiliches, sondern ein soziales und politisches Thema gewesen.
Wie hat der Magistrat auf dieses politische Thema geantwortet? Es heißt immer, die Staatsmacht im Osten sei implodiert.
Im Magistrat ist damals ein eigener ressortübergreifender Arbeitsbereich eingerichtet worden, der als Anlaufstelle für alle Fragen rund um das Thema Wohnungspolitik diente. Dieser Arbeitsbereich sollte auch das Gespräch mit den Besetzern suchen. Ziel war ein Bleiberecht, das auch bei ungeklärten Eigentumsfragen standhalten sollte. Mit anderen Worten: Wir wollten eine Verhandlungslösung. Und wir wollten Rechtssicherheit für die Menschen, die in der sich auflösenden DDR in ungeklärten Wohnverhältnissen lebten.
Die Räumung der Mainzer Straße am 14. November 1990 war das Gegenteil einer Verhandlungslösung.
Wir stellten im Verlauf des Jahres 1990 fest, dass in die besetzten Häuser immer mehr West-Berliner kamen. Dazu gehörten auch solche, die einen Hausbesetzerhintergrund hatten. Damit veränderte sich auch die Gesprächskultur. Wir mussten feststellen, dass es einigen nicht mehr nur um die Legalisierung von Wohnraum und damit ihrer Lebensverhältnisse ging, sondern darum, dem Hausbesetzer-West-Mythos der frühen 80er-Jahre nachhängend regelungslose Freiräume zu schaffen, also rechtsfreie Räume. Viele Häuser wurden auch regelrecht kaputt besetzt. Es prallten im gewissen Sinne zwei sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen und Philosophien von Ost und West aufeinander.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Trotz der schwindenden Dialogbereitschaft mancher Besetzer hat sich der Magistrat immer wieder zu Verhandlungen bereit erklärt und diese auch geführt. Es gab aber auch viele DDR-Bürgerrechtler, die erschrocken waren über die von den West-Besetzern erklärte Gewaltbereitschaft und dass ihre Gesprächsbereitschaft so brüsk zurückgewiesen wurde. Sie haben ihr Gegenüber als sehr elitär empfunden, als Leute, die eine völlig andere Form des Umgangs pflegten. Dabei war gerade ein offener, gewaltfreier Dialog ein tragendes Ergebnis der friedlichen Revolution.
Die Besetzer haben damals auch das Rote Rathaus besetzt, den Sitz des Ostberliner Magistrats.
Es bedurfte großen Verhandlungsgeschicks von Thilo Schwierzina, damals Oberbürgermeister von Ostberlin, und von Thomas Krüger, Stadtrat für Inneres, unter ausdrücklichem Hinweis auf die friedliche Revolution zu deeskalieren. Doch bald zeichnete sich ab, dass eine Verhandlungslösung von manchen Hausbesetzern nicht mehr gewünscht war und als Verrat am Westberliner Hausbesetzer-Mythos betrachtet worden wäre.
Welche Rolle spielte der rot-grüne Senat?
Seit den Wahlen vom März 1990 bis zur Vereinigung gab es nach einigen Zwischenschritten den MagiSenat, die Zusammenarbeit von Westberliner Senat und Ostberliner Magistrat und die Abstimmung in wichtigen Fragen. Der MagiSenat wurde bis zu den ersten gemeinsamen Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 und der folgenden konstituierenden Sitzung des Parlaments weitergeführt.
Wie hat der MagiSenat auf die Radikalisierung reagiert?
Die federführende Magistratsseite hat sich dort bald nicht mehr in der Lage gesehen, für einige bestimmte Häuser eine Verhandlungslösung herbei zu führen.
Also Räumung.
Damals fiel die Entscheidung, dass diese Häuser nach Übertragung der Berliner Linie auf die gesamte Stadt geräumt werden müssen.
Das bedeutete, dass die Berliner Linie, die in Ostberlin Verhandlungen für die Häuser anbot, die vor dem 24. Juli besetzt waren, allen Besetzungen danach aber die Räumung androhte, für die Mainzer Straße nicht galt?
Ja. Die Zeichen in der Mainzer Straße standen nicht auf Verhandlung, sondern auf Abbruch der Verhandlungen. Die Protagonisten der Westberliner Hausbesetzerszene haben den Dialog nicht gewollt, den Dialog aber auf der Besetzerseite dieser Wohnhäuser dominiert.
Die Entscheidung zur Räumung fiel also nicht erst am 13. November, sondern bereits vorher.
Die Entwicklung, die zur Räumung führen musste, war schon vorher absehbar und letztlich trotz allen politischen Bemühens nicht aufhaltbar.
Gab es da einen Dissens mit dem Senat, an dem ja auch die Alternative Liste von Renate Künast beteiligt war?
Nein. Der MagiSenat und auch die Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung in Ostberlin hatten eine gemeinsame Bewertung der Situation. Sowohl was die Möglichkeit der Legalisierung aller anderen Häuser anbetrifft als auch das Erkennen der faktischen Unmöglichkeit, dieses auch in der Mainzer Straße zu schaffen.
Die Alternative Liste, Bündnis 90 und auch zahlreiche Bürgerrechtler haben bis zuletzt gemeinsam mit dem Magistrat nach Alternativen zur Räumung gesucht.
Das war im Grunde unmöglich. Bis zuletzt war auf der Besetzerseite keinerlei Bereitschaft zu einer rechtlich hinreichend tragfähigen Regelung zu erkennen. Im Gegenteil. Da wurde immer weiter hochgerüstet. Es gab massive Befestigungen, die Vorbereitungen zur Verhinderung der Räumung liefen auf Hochtouren.
Der damalige Polizeipräsident Georg Schertz sagte der taz, die Entscheidung zur Räumung sei während einer Lagebesprechung in der Nacht zum 14. November 1990 gefallen.
Damit meint er den konkreten Einsatz, also den Beginn der Räumung. Die grundlegende politische Entscheidung ist vorher gefallen.
Wussten Sie, dass es nach dem Bau von Barrikaden am Morgen des 12. November zur Räumung der Mainzer Straße kommen würde?
Das wusste ich. Die Vorbereitung eines derart großen Einsatzes passiert nicht von heute auf morgen. Das kann man nicht erst in der Nacht entscheiden.
Die Alternative Liste und Renate Künast sagten und sagen, sie hätten nichts von der Räumung gewusst.
Ich möchte nicht den Auflösungsprozess der damaligen rot-grünen Koalition kommentieren. Was ich sagen kann: Sowohl der Magistrat als auch der Senat waren sich einig, dass an der Räumung in diesem Straßenzug kein Weg mehr vorbeiführt. Das wurde in vielen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, des dortigen Innenausschusses und auch an den Runden Tischen öffentlich diskutiert. Daran waren auch Vertreter von Bündnis 90 und der Bürgerbewegung beteiligt.
Welche Rolle spielte Thomas Krüger bei der Räumung?
Der Stadtrat für Inneres, Herr Krüger, war wie der Magistrat insgesamt an der Entschlussfassung beteiligt, nicht aber an der Ausführung. Die erfolgte durch die Gesamtberliner Polizei. Volkspolizei im herkömmlichen Sinne kam damals nicht zum Einsatz. Federführend war zu diesem Zeitpunkt nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 bereits die Senatsinnenverwaltung.
Wusste Herr Momper vor seinem Abflug nach Moskau, dass die Mainzer Straße bei seiner Rückkehr geräumt sein würde?
Ich habe nicht daneben gesessen.
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