Polizeigewalt gegen Jugendliche: Heftige Proteste in Griechenland
Nach dem Kopfschuss auf einen Jugendlichen protestieren Tausende in Thessaloniki. Es war auch der Jahrestag der Erschießung eines 15-Jährigen in Athen.
Den Kopfschuss auf den 16-Jährigen am Montag in Thessaloniki hatte ein Polizist der motorisierten „DIAS“-Einheit abgefeuert. Ein Mitarbeiter der Tankstelle hatte die Polizei darüber informiert, dass der Mann ihn bestohlen habe. Prompt setzte die Jagd auf Kostas Frangoulis ein. Er hatte getankt, ohne die dafür fälligen 20 Euro zu bezahlen, dann gab der Junge Vollgas – und erhielt von hinten einen Kopfschuss. Die Kugel durchbrach die Heckscheibe seines Pick-Ups, dann auch die Kopfstütze und bohrte sich schließlich tief in seinen Kopf. Seither liegt der Minderjährige auf der Intensivstation in Thessaloniki und kämpft ums Überleben.
Ohnehin sind die Griechen spätestens seit dem denkwürdigen 6. Dezember 2008 in Sachen Polizeigewalt stark sensibilisiert. Dieses Datum hat sich gesellschaftlich fest verankert: Am Abend des 6. Dezember 2008 war der 15 Jahre alte Schüler Alexandros Grigoropoulos im Athener Szeneviertel Exarchia erschossen worden. Er war dort mit Freunden unterwegs. Der Polizist ließ ihn liegen und suchte das Weite. Seither finden alljährlich am 6. Dezember in den Metropolen Athen, Thessaloniki und anderswo Demonstrationen zum Gedenken an Alexandros Grigoropoulos statt. Sie münden routinemäßig in Ausschreitungen.
Das war an diesem Dienstagabend nicht anders. Nach Polizeiangaben versammelten sich zunächst 8.000 Menschen in der Athener Innenstadt zum 14. Jahrestag der Ermordung von Grigoropoulos. Die Menschenmenge zog auf einer festgelegten Route durch die Straßen, bis sich etwa 1.000 Personen aus der autonomen Szene unweit des Athener „Omonia“-Platzes von ihr lösten. Die Vermummten griffen die Polizei mit Molotow-Cocktails, Steinen und anderen Gegenständen an. Erst durch den massiven Einsatz von Blendgranaten, Tränengas und einem Wasserwerfer konnte die Polizei Herr der Lage werden. Sie jagte die Krawallmacher auch noch in den Schächten der dortigen U-Bahn-Station. 19 Personen wurden in Gewahrsam genommen.
Thessaloniki glich am Mittwochmorgen einer „bombardierten“ Landschaft, wie griechische Medien berichteten. Die Bilanz einer langen, unruhigen Nacht: Verbrannte Mülltonnen, zerbrochene Flaschen von Molotow-Cocktails und Gaskanister, beschädigte Geschäfte, 16 in Polizeigewahrsam genommene Personen und zwei verletzte Polizisten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.
Zuvor hatten im Zentrum von Thessaloniki auf Initiative verschiedener Organisationen und Vereinigungen Veranstaltungen, Versammlungen und Demonstrationen stattgefunden, an denen laut Polizeiangaben etwa 6.000 Menschen teilnahmen.
Im nordwestlichen Athener Vorort Menidi, in dem viele Roma und Sinti leben, erlitten bei Zusammenstößen mit der Polizei laut Medienberichten zehn Ordnungshüter Verletzungen. Zwei Randalierer wurden in Polizeigewahrsam genommen.
Erste Demonstrationen bereits am Montagabend
Gruppen von Anarchisten und Autonomen riefen schon für den Montagabend zu einer Protestkundgebung im Zentrum von Thessaloniki auf. In Thessaloniki vor dem Krankenhaus, wo der schwer verletzte Kostas Frangoulis nun liegt, kam es zu massiven Ausschreitungen zwischen der griechischen Polizei und aufgebrachten Angehörigen und Freunden des 16-Jährigen. Vor laufenden Kameras erregte sich sein Vater über das brutale Vorgehen der Polizei. „Soll man einen Menschen töten, nur weil er an der Tankstelle nicht bezahlt hat?“
Auch in Athen fanden Kundgebungen statt. Es kam zu schweren Ausschreitungen. Bei einem dieser Vorfälle im Athener Anarchisten-Viertel Exarchia griff eine Gruppe von etwa 100 Personen Polizeikräfte mit Molotow-Cocktails an. Proteste brachen auch am Dienstagvormittag vor dem Gerichtsgebäude in Thessaloniki aus, wo der Polizist zum ersten Mal erschien. Der „DIAS“-Polizist wurde sofort suspendiert. Unterdessen ist ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden und er soll am Freitag vor Gericht erscheinen. Dutzende Roma ließen ihrem Frust freien Lauf, als der Polizist dem Staatsanwalt vorgeführt wurde.
Für die Roma und Sinti weckt der Fall Frangoulis böse Erinnerungen. Am 23. Oktober vorigen Jahres hatten motorisierte „DIAS“-Polizisten bei einer wilden Verfolgungsjagd im westlichen Athener Arbeitervorort Perama einen 21-jährigen Roma erschossen. Auch damals entlud sich die Wut und Empörung der Roma und Sinti in spontanen Kundgebungen und heftigen Krawallen. Die Roma, in Griechenland weiter eine soziale Randgruppe, die oftmals gemieden, ausgegrenzt, diskriminiert und benachteiligt wird, fühlen sich inzwischen als offene Zielscheibe der Polizei.
Bonuszahlung für die Polizei
Premier Mitsotakis ging an beiden Unruhetagen demonstrativ seinen Amtsgeschäften nach, so als gäbe es keinen Kopfschuss, keine Demos, keine Ausschreitungen, keinen Gedenktag an Alexandros Grigoropoulos.
Der Regierungschef ließ den ungeheuerlichen Vorfall um den Roma Kostas Frangoulis einfach an sich abperlen. Doch damit nicht genug. Am Montag, nur wenige Stunden nach den Schüssen in Thessaloniki, verkündete Mitsotakis bei einer Veranstaltung seiner konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) in der Stadt Tripolis auf der Halbinsel Peloponnes mit strahlender Miene: „In Anbetracht der verstärkten Arbeit der Polizei, die 24 Stunden im Einsatz ist, und der erfolgreichen Bewältigung der Migrationsströme gewähren wir allen Beamten der griechischen Polizei und der Küstenwache eine einmalige Unterstützung. Alle Mitarbeiter werden im Dezember eine Sonderzahlung in Höhe von 600 Euro pro Mitarbeiter erhalten.“
Von Feingefühl keine Spur. Dafür, ganz unverblümt, ein Wahlgeschenk. Denn spätestens im Frühjahr stehen Neuwahlen in Griechenland an. Die versammelten ND-Leute brachen jedenfalls in tosenden Applaus aus, während 650 Kilometer weiter nördlich der Roma Kostas Frangoulis mit dem Tod rang. Nicht nur in den Ohren seiner Angehörigen und Freunde klangen Mitsotakis' Worte wie Hohn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken