Polizeigeschichte und NS-Aufarbeitung: „Das ist in der Tat paradox“
Der Historiker Sven Deppisch befasst sich als einer der ersten mit der Geschichte der Polizei unter den Nazis – und sieht Kontinuitäten bis zum G20-Gipfel.
taz: Herr Deppisch, wir unterhalten uns in der Polizeihochschule Fürstenfeldbruck bei München, keine halbe Stunde entfernt von einem zentralen, weltweit berüchtigten Tatort des Nationalsozialismus, dem KZ Dachau. Die Schule hier in Fürstenfeldbruck war ein – wie Sie es nennen – „zentraler Täterort“ des NS-Regimes, der jedoch bislang selbst in Fachkreisen kaum bekannt war. Wie sind Sie auf diesen Ort gekommen?
Sven Deppisch: Ich war auf der Suche nach einem Thema für meine Dissertation. Es sollte einen NS-Bezug haben, das war mein Studien- und Interessenschwerpunkt. Ich wollte zudem eine Behörde, eine Schule oder ein Unternehmen untersuchen. In München bin ich nicht auf Anhieb fündig geworden. Ich selbst komme hier aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck, da dachte ich mir, schaue ich mich mal vor der eigenen Haustür um. Da fiel mein Blick auf die Polizeischule.
Und was haben Sie entdeckt?
Diese Schule hier in Fürstenfeldbruck ist seit dem Gründungsjahr 1924 einer der wichtigsten Orte der Polizeiausbildung in Bayern. Sie war während des Dritten Reiches eine von nur zwei Offiziersschulen der Ordnungspolizei. Und da wusste ich: Nur dieses Thema ist für mich geeignet. Am Ende der Recherchen musste ich dann tatsächlich eine Auswahl treffen, welchen der hier ausgebildeten, hochrangigen NS-Täter ich in meine Studie aufnehmen kann und welchen nicht: Die Anzahl war so enorm hoch.
Warum wurde bei der Aufarbeitung bei der „ganz normalen“ Polizei so lange weggeschaut? Jeder würde doch zustimmen, wenn wir von der NS-Diktatur als Polizeistaat sprechen.
Das ist in der Tat paradox. In den großen NS-Prozessen nach 1945 hat man sich auf die Hauptschuldigen des Regimes konzentriert, darunter die SS und die Gestapo. Die Alliierten wussten aber sehr wohl darüber Bescheid, dass die Ordnungspolizei ebenfalls an Verbrechen beteiligt war. Denn seit Oktober 1939 hörten britische Geheimdienste ihren Funkverkehr ab. Es hatte aber pragmatische Gründe, die Ordnungspolizei aus den Nürnberger Prozessen auszuklammern. Der neue demokratische Staat brauchte eine Polizei – und wie sollte man das Personal rekrutieren? Ranghohe Polizeioffiziere arbeiteten da schon an der Legende von der „sauberen Polizei“.
Und wie lautete die?
Der ehemalige Generalinspekteur der Polizeischulen, Adolf von Bomhard, hat etwa behauptet, die polizeiliche Ordnungsmacht habe allenfalls mal im Rahmen der Amtshilfe Deportationszüge bewacht. Lange hieß es, man sei nur an der „Bandenbekämpfung“, also am Krieg gegen Partisanen, beteiligt gewesen. Die galten als Verbrecher, gegen die eine Polizei eben vorgeht. Gerade dieses Deutungsmuster hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft sehr gerne akzeptiert, weil es nach dem damals geltenden Kriegsvölkerrecht legitim war, Partisanen zu erschießen. Dieser Heldenlegende hat lange niemand widersprochen, auch die Geschichtswissenschaft nicht. Um das zu ändern, brauchte es Impulse von außen: vor allem die Arbeiten der US-Amerikaner Christopher Browning und Daniel Goldhagen, die in den frühen 1990ern die Massenmorde von Polizeibataillonen im Osten untersucht haben.
Wann ist denn das erste Buch erschienen, in dem sich ein interessierter Laie über die Geschichte der deutschen Polizei zwischen 1933 und 1945 hätte informieren können?
Es gibt bis heute keine richtige Überblicksdarstellung zur Geschichte der deutschen Polizei ganz allgemein. Dementsprechend auch keine, in der die verbrecherische Rolle der Polizei im Dritten Reich angemessen beleuchtet wird. Die Polizei ist selbst heute noch ein exotisches Themenfeld in der Geschichtswissenschaft, auch ich wurde von Kollegen belächelt.
Warum bezeichnen Sie die Polizeischule Fürstenfeldbruck als „zentralen Täterort“?
Hier wurden Polizisten für ihren Einsatz im Osten vorbereitet. Es gibt zwar keine Quelle, in der es hieße: „Wir üben jetzt, Juden zu erschießen.“ Man hat es, und das ist das Perfide an der ganzen Geschichte, allgemeiner gehalten. Die Offiziere wurden dazu ausgebildet, Polizeieinheiten zu kommandieren und ihren Untergebenen Befehle zu erteilen, nach denen sie den Gegner zur Strecke bringen sollten.
Das Thema
Während der NS-Diktatur gab es zwei Offiziersschulen der Ordnungspolizei: in Fürstenfeldbruck bei München und in Berlin-Köpenick. Hunderte Männer absolvierten dort zwischen 1933 und 1945 ihre Ausbildung. Der sogenannte Bandenkampf spielte dabei eine besondere Rolle. Viele der dort Ausgebildeten waren für Massenmorde verantwortlich. Nach Kriegsende führten sie ihre Karrieren fort, ohne jemals angemessen bestraft zu werden.
Die Polizeischule
Die heutige „Bayerische Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege – Fachbereich Polizei“ befindet sich in einem Teil des ehemaligen Klosters Fürstenfeld.
Der Autor
Sven Deppisch studierte Geschichte und Politische Wissenschaft an der LMU in München. Der promovierte Historiker arbeitet in den Bereichen Redaktion und Marketing.
Das Buch und weitere Lektüre
Sven Deppisch: „Täter auf der Schulbank: Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust“. 676 S., Tectum Verlag 2017, 39,95 Euro.
Christopher Browning: „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“. 1993
Daniel Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“. 1996
Buchvorstellung
13. März, 19 Uhr, Topographie des Terrors, Berlin
Wer war dieser Gegner?
Thematisch dominierte in den Lehrgängen der Einsatz im geschlossenen Verband vor allem zur Bekämpfung von sogenannten Banden. Aber was ist denn das für ein Begriff, „Bande“? Der sagt nichts über die Anzahl ihrer Mitglieder aus. Klar scheint nur: Das ist irgendetwas Böses, was Kriminelles. Das können Partisanen oder Aufständische in einem Konzentrationslager sein – solche Gedankenspiele gab es, schon in der Vorkriegszeit gegen „Kommunisten“ aus einem Außenlager des KZ Dachau. Das eingeübte Schema war immer das gleiche, auch später in den besetzten Gebieten: Die Orte mussten umstellt, die möglicherweise bewaffneten Gegner gestellt und niedergerungen werden.
Das umreißt, was Sie im Buch „Bandentheorie“ nennen?
Hier in Fürstenfeldbruck wurden Maßnahmen eingeübt, um den Feind – konkret: Banden und Partisanen – zu vernichten. Mit diesen Einsatzmustern ist die Polizei dann in den sogenannten auswärtigen Einsatz gezogen. Die Angehörigen der Polizeibataillone kamen als verschworene Gemeinschaft in Länder, deren Sprache sie nicht verstanden. Wenn sie dann etwa eine Straße abzusperren hatten, war es für sie geradezu unerheblich, ob das für eine Razzia gegen Kriminelle war oder um Juden zur Deportation oder zur Erschießung zu sammeln. Da brauchte es gar keine überzeugten antisemitischen Weltanschauungskrieger, wie SS- und Polizeichef Heinrich Himmler sie sich wünschte. Es reichte, dass sie als loyale Staatsdiener „funktionierten“.
Welche Nachwirkung hatten dieser Korpsgeist und diese NS-Polizeiausbildung in der Bundesrepublik?
Die Vorstellung, die Polizei kämpfe gegen Banden, hält sich teilweise bis in die 1980er Jahre hinein. Das hat mich schon sehr erstaunt – und es ist kurios gelaufen. Die Amerikaner haben versucht, die westdeutsche Polizei zu entnazifizieren, zu entmilitarisieren. Doch mit dem Koreakrieg ab 1950 drohte der Kalte Krieg zu einem heißen Krieg zu eskalieren. Die Bundeswehr wurde aber erst 1955 gegründet. Wer also hätte einschreiten müssen, wenn es an der deutsch-deutschen Grenze zum Konflikt gekommen wäre? Die Polizei! Also wurde dafür gesorgt, dass sie truppenmäßig organisiert und etwa an Granatwerfern ausgebildet wurde. Zur gleichen Zeit kam ein teilweise sehr stark NS-belastetes Personal wieder in die Polizei hinein, in vielen Fällen wurde es mit der Ausbildung der neuen Generation betraut. Die Polizei wurde nun wie bisher zu einer paramilitärischen Ersatzarmee erzogen.
Woran macht sich das fest?
Noch im Oktober 1980 hielten Bereitschaftspolizei und Bundesgrenzschutz ein Planspiel ab, in dem der Bandenjargon verwendet wurde. Nicht mehr so radikal wie einst, denn schon die Schwabinger Krawalle im Sommer 1962 in München hatten gezeigt, dass man gegen jugendliche Demonstranten in einer demokratischen Öffentlichkeit nicht mehr nach den alten Einsatzmustern vorgehen kann. Doch erst als das Personal aus der NS-Zeit seit Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre hinein peu à peu in Pension ging, wurden weiterreichende Reformen angestoßen, hin zu einer Bürgerpolizei.
Das heißt abschließend: Wenn wir uns mit Ihrem Forschungsgegenstand beschäftigen, dann als rein historische, überwundene Materie?
Wenn die Polizei heute Bandenkriminalität bekämpft, denkt dabei freilich niemand mehr an Partisanen oder gar Juden. Erfreulicherweise hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental gewandelt. Wenn beim G20-Gipfel jedoch die Polizei davon sprach, linke Gewalttäter wollten sie in einen „Hinterhalt“ locken, den es dann so wohl doch nicht gegeben hat; dann ist die spannende Frage: Woher kommt so eine Einschätzung? Kommt die spontan aus der konkreten Situation? Oder ist da ein Einsatzleiter, der sagt: Leute, passt auf! Die werden sicherlich so was versuchen. Das ist für mich als Historiker interessant, weil die Polizei schon in der Weimarer Republik große Angst vor Feinden hatte, die aus dem Hinterhalt angreifen. Die Forschung wird klären müssen, ob solche Denkweisen auch ein Stück weit in der demokratischen Polizei überlebt haben oder sich aus der Struktur der Institution heraus selbst reproduzieren. Ich finde es gut, dass Polizisten weiterhin in Fürstenfeldbruck, an diesem historisch kontaminierten Ort, ausgebildet und künftig auch in der Geschichte der Schule unterrichtet werden. Denn die Polizei ist viel zu wichtig, um sie den Antidemokraten von einst und jetzt zu überlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen