Polizeieinsatz in Hannover: Durchsuchung bei verletztem Sanitäter

Ein junger Mann wird überfallen und schwer verletzt. Die Polizei durchsucht daraufhin seine Wohnung. Einen Gerichtsbeschluss hat sie nicht.

Verbandskoffer mit der Aufschrift "Erste Hilfe für Kinder"

Offenbar verdächtig: Die Polizei Hannover hielt Verbandsmaterial für gestohlen Foto: Imago/Political-Moments

HAMBURG taz | In Hannover-Linden hat die Polizei ohne Gerichtsbeschluss die Wohnung eines 17-Jährigen durchsucht, nachdem dieser im Treppenhaus seines Wohnhauses schwer verletzt worden war. Während der Geschädigte im Krankenhaus lag, betrat die Polizei seine Wohnung – angeblich zur Beweis- und Spurensicherung. Vor Ort fand sie große Mengen an Sanitätsmaterial, woraufhin sie dem Minderjährigen vorwarf, dieses geklaut zu haben.

Der Schwerverletzte Simon S. ist Mitglied eines Kollektivs von Sanitäter*innen, die Verletzte auf Demonstrationen und nicht kommerziellen Veranstaltungen medizinisch versorgen – das Arbeitsmaterial lagert die Gruppe in der Wohnung des Verletzten zwischen, der Gruppenführer in dem Kollektiv ist. Die Polizei hat das gesamte notfallmedizinische Material beschlagnahmt.

Der Demosanitäter war am vergangenen Donnerstag von mehreren Personen angegriffen worden. Dabei wurde er mit Stich- und Schnittwunden an Armen, Schulter und Brust so schwer verletzt, dass ein Notruf abgesetzt werden musste. Der Rettungswagen brachte den Verletzten daraufhin ins Krankenhaus.

Die Polizei beschlagnahmte gegen den Willen des Opfers seine Kleidung sowie sein Handy und seinen Wohnungsschlüssel, wie aus einer Pressemitteilung des Sanitätskollektivs hervorgeht. Die Polizei will ihm die Sachen ebenfalls zur Beweis- und Spurensuche abgenommen haben. Noch während der 17-Jährge sich im Schockraum des Krankenhauses von dem Überfall erholte, hat die Polizei die Wohnung des Demosanitäters durchsucht – ohne dessen Wissen und Einverständnis.

Simon S. bestätigt der taz, der Angriff habe sich im Treppenhaus seines Wohnhauses ereignet. Allerdings wohne er im zehnten Stock eines Hochhauses. Dort oben seien keine Blutspuren gewesen, die darauf hindeuteten, dass sich der Angriff in seiner Wohnung zugetragen haben könnte.

Zweifel an Aussage der Polizei

Die Polizei gibt an, sie habe die Wohnung auch auf der Suche nach den Tä­te­r*in­nen betreten. Auf taz-Nachfrage, warum die Polizei denn Simon S. nicht selbst nach Personen in seiner Wohnung gefragt habe, antwortete ein Sprecher, der 17-Jährige wäre für eine ausgiebige Befragung zu wenig ansprechbar gewesen.

Im Gespräch mit der taz bestreitet Simon S. diese Behauptung. Er berichtet, er sei die ganze Zeit über ansprechbar gewesen. Beispielsweise habe er sich lautstark dagegen gewehrt, dass die Polizei seine persönlichen Gegenstände mitnahm. Er habe sogar versucht, von der Rettungstrage herunterzusteigen.

Offensichtlich waren keine Tä­te­r*in­nen in Simon S. Wohnung – schließlich fahndet die Polizei noch immer nach den Unbekannten. Stattdessen stieß die Polizei in der Wohnung auf einen „Zufallsfund“: große Mengen an Sanitätsmaterial. Erst daraufhin hat die Polizei eine Eilan­ordnung durch die Hannoversche Staatsanwaltschaft für eine Wohnungsdurchsuchung erhalten, bestätigt diese.

Richterlich ist die Durchsuchung nicht bestätigt worden, wie das Amtsgericht Hannover gegenüber der taz bestätigt. Eine Anordnung durch die Staatsanwaltschaft reiche aber in Einzelfällen aus, etwa wenn Gefahr im Verzug sei. Jedoch bleibt offen, welche Dringlichkeit vom Sanitätsmaterial ausging, wenn Simon S. zu dem Zeitpunkt selbst verletzt und ohne Kenntnis darüber im Krankenhaus lag.

Zu viel Verbandsmaterial scheint verdächtig

Die Polizei Hannover hat nach Angaben eines Sprechers aufgrund der Menge des vorgefundenen Sanitätsmaterials und der Notfallmedikamente Verdacht geschöpft. Das sei für einen 17-Jährigen ungewöhnlich.

Simon S. berichtet der taz, dass sich die Polizei nicht bei ihm erkundigt habe, was es mit dem Material auf sich hat. Auf dem Sanitätsmaterial wie auf den ebenfalls in der Wohnung befindlichen Rucksäcken stehe der Name des Sanitätskollektivs: ­„Medics for peace“. Der Polizei sollte er aus dessen Einsätzen bei Demonstrationen bekannt sein. „Ab dem Zeitpunkt, an dem die Polizei ‚Medics for peace‘ auf dem Rucksack gelesen hat, wirkt es für mich wie ein reiner Repressionsversuch“, sagt der 17-Jährige.

Den Verdacht und Vorwurf der Polizei Hannover, die gefundenen Sanitätsmaterialien seien gestohlen, weist das Kollektiv in seiner Pressemitteilung von sich. Ihre Arbeit finanzierten die ehrenamtlichen Not­fall­hel­fe­r*in­nen über Spendengelder oder aus eigener Tasche.

Auf Instagram teilte das Kollektiv in einem Post bereits am vergangenen Sonntag mit, dass es seiner Arbeit vorerst nicht mehr nachgehen könne. Anfragen, Demonstrationen medizinisch zu begleiten und einen sichereren Protest zu gewährleisten, könnten sie derzeit nicht mehr annehmen – weil die Polizei das gesamte Sanitätsmaterial bei der Durchsuchung der Wohnung von Simon S. beschlagnahmt habe.

Beschwerde gegen Beschlagnahmung

Mittlerweile hat der 17-Jährige eine mündliche Beschwerde gegen das Vorgehen der Polizei wegen der Beschlagnahmung des Sanitätsmaterials eingelegt. Von der Polizei hat er auch ein paar Tage nach der Razzia weder eine Kopie des Durchsuchungsprotokolls noch des Protokolls über die konfiszierten Gegenstände ausgehändigt bekommen, wie es im Fall von Hausdurchsuchungen üblich ist.

Das Kollektiv hat mittlerweile eine Spendenkampagne gestartet, um neues Notfallmaterial zu kaufen.

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