piwik no script img

Politologe über Europas Osten und Westen„Osteuropa ohne Kolonialgeschichte“

Ist der Osten rassistischer als der Westen? Ivan Krastev über seinen neuen Essay „Europadämmerung“ und die Frage, warum die EU ihr Selbstbewusstsein verloren hat.

Europa ist verschieden (das Bild zeigt das Europaparlament in Straßburg) Foto: imago/photothek
Fabian Ebeling
Interview von Fabian Ebeling

taz.am wochenende: Herr Krastev, Sie haben den Zerfall der Sowjetunion in Osteuropa miterlebt. Sehen Sie gerade das Ende der Europäischen Union kommen?

Ivan Krastev: Nein, ich sehe nicht das Ende der Europäischen Union kommen. Wir können die EU aber nicht weiter als selbstverständlich hinnehmen. Dinge, die vorher undenkbar waren, sind nun denkbar geworden. Der Brexit zum Beispiel hat eine starke psychologische Wirkungsmacht, die Angst vor politischen Fehlkalkulationen ist gewachsen. Aber was meinen wir denn eigentlich mit dem Ende? Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit? Wir haben viele Theorien zur europäischen Integration, aber keine zur Auflösung der EU.

In Ihrem neuen Essay „Europadämmerung“ untersuchen Sie die Bruchlinien, die sich derzeit durch die EU ziehen. Eine der schwersten Folgen der Flüchtlingskrise sei demnach die Spaltung zwischen West- und Osteuropa. Warum?

Die Flüchtlingskrise hat tiefe ­politische und kulturelle Trennlinien verstärkt, die vorher schon da waren. Osteuropäische Länder haben keine Kolonialgeschichte. Sie sind es weniger gewohnt, mit vermeintlich Fremden in einer Gesellschaft zu leben, als Westeuropäer. In einem Land wie Polen wurde die ethnische Homogenität zum Fundament des Nationalstaats. Das Bild des Fremden an den Grenzen des eigenen Landes wirkt für viele Osteuropäer wie das Todesurteil für ihre teils kleinen ethnischen Gruppen.

Die Länder auf der sogenannten Balkanroute waren ja eher Transitländer für Flüchtlinge.

Im Interview: Ivan Krastev

geboren 1965 in Lukovit, Bul­ga­rien, ist Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia ­sowie Mitbegründer des European Council on Foreign Re­lations (ECFR).

Ja, aber die Ablehnung des Fremden ist immer dort am stärksten, wo es kaum Fremde gibt. Nichts ist schlimmer als der imaginierte Ausländer, Migrant oder Flüchtling. Selbst Minderheiten wie die Roma wurden in Ländern wie Rumänien oder Ungarn über Jahrhunderte nicht ordentlich integriert. Die Menschen fragen sich heute also, warum sie denn noch mehr Leute mit völlig anderen kulturellen Hintergründen aufnehmen sollten. Liberaler eingestellte Menschen, die dort leben, wollen in westeuropäische Länder auswandern. Das verstärkt die Verunsicherung noch.

Heißt denn Europa zum Beispiel für einen Bulgaren etwas völlig anderes als für einen Niederländer?

Ganz sicher. Einige Länder sind bereits seit siebzig Jahren Teil des europäischen Projekts. Sie haben sich diese Union ganz anders angeeignet. 1989 feierte man vor allem die Öffnung der Grenzen. Davon profitierten viele Osteuropäer, die heute im Ausland arbeiten. Jetzt allerdings wirken diese offenen Grenzen für sie wie eine Bedrohung, denn besonders in ihren Heimatländern sprach man sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Je mehr aber die Rhetorik gegen Fremde in Westeuropa zunimmt, desto eher werden auch Arbeitsmigranten aus dem Osten Opfer davon. Das sah man nach dem Votum zum Brexit, als es in England zusehends zu Übergriffen auf Polen und andere Einwanderer kam.

Sie schreiben in Ihrem Essay, osteuropäische Staaten teilten die kosmopolitischen Werte nicht, die am Grund der europäischen Identität liegen.

taz.am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Einer der großen Unterschiede liegt darin, was 1968 für West- und Osteuropa bedeutete. Im Westen solidarisierte man sich mit Dekolonialisierungsbewegungen weltweit, auch im Hinblick auf die eigenen Kolo­nial­geschichten und die Folgen des Zweiten Weltkriegs. Damit ging ein sehr multikulturalistisches Mindset einher. In Polen oder der Tschechoslowakei kamen die Demonstrationen 1968 eher einem nationalen Erwachen gleich. Die Menschen dort wehrten sich gegen den Sowje­timperialismus, den die osteuropäischen Regimes mit der angeblich internationalen kommunistischen Revolution legitimierten. Das ist ein völlig anderes Motiv als im Westen.

Zeigt sich dieser Emanzipationsdrang denn auch heute noch?

Der Vorsitzende der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, ist ein gutes Beispiel dafür. Er hat immer schon daran geglaubt, dass Polen nur frei und demokratisch sein kann, wenn es völlig souverän ist. Kaczyński lehnt es komplett ab, dass Polen seine Souveränität mit irgendjemandem teilt. Aber die Europäische Union ist schließlich genau um diese kosmopolitische Idee herum organisiert. Die Union muss also einen funktionierenden Mittelweg finden. Das kann allerdings nicht bedeuten, offene Grenzen als problemlos abzutun, denn das sind sie nicht.

Glauben Sie denn, dass Länder wie die Slowakei trotzdem bei der Umverteilung von Flüchtlingen einlenken werden?

Osteuropäische Gesellschaften haben das Gefühl, dass ihnen diese Umverteilung aufgezwungen wird. Die deutsche Bundesregierung hat sich für die Öffnung der Grenzen entschieden. Als das zu Spannungen in Deutschland führte, entschloss man sich, die anderen Länder moralisch in die Pflicht zu nehmen. Es gab dazu aber keine ernsthafte Diskussion. Das wiederum erlaubte einigen osteuropäischen Regierungschefs, die europäische Migrationspolitik generell infrage zu stellen. Es ist lächerlich, aber manche Länder wollen nicht einmal eintausend Menschen aufnehmen.

In Ihrem neuen Buch „Europadämmerung“ schreiben Sie über Sinn und Unsinn von Volksabstimmungen und direkter Demokratie. Welche Auswirkungen haben denn Referenden wie jenes 2016 in den Niederlanden zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine? Sechzig Prozent der Wähler stimmten dagegen.

Dieses Referendum war unfassbar. Ich glaube, die Mehrheit der niederländischen Bevölkerung weiß nichts über das Assoziierungsabkommen der Europäi­schen Union mit der Ukraine, und sie interessiert sich auch nicht dafür. Die Abstimmung stand stellvertretend dafür, wie politische Gruppierungen oder gar die Regierung eines Landes Popularität bei den Menschen gewinnen wollen. Sie möchten den Eindruck erwecken, für die Mehrheit der Bürger zu sprechen. Wenn es mehr solcher Referenden geben sollte, wird die EU gelähmt. Ich halte sie für gefährlicher als mögliche Exit-Abstimmungen.

Welche Rolle spielt Russland bei den Spannungen zwischen West- und Osteuropa?

Osteuropas Verhältnis zu Russland ist gespalten. Polen und das Baltikum fühlen sich von Russland bedroht. In Viktor Orbán wiederum hat Wladimir Putin einen seiner größten Verbündeten in Europa. Ich glaube, Moskau wird immer versuchen, sich mit einzelnen Ländern Europas zu arrangieren, nicht aber mit der Europäischen Union als Ganzes. Das wird sich noch verstärken, wenn Russlands Beziehungen zu den USA so schlecht bleiben. Ein Ziel Moskaus wird es sein, die EU von den USA zu lösen, und das war noch nie so vielversprechend wie jetzt mit Donald Trump als Präsidenten. Das Verhältnis zwischen den USA und Europa ist so angespannt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Russland wird die Brüche in den europäischen Gesellschaften vertiefen und instrumentalisieren wollen, um die USA wieder in eine Verhandlungsposition bezüglich der Sanktionen zu drängen.

Bieten die Spannungen zwischen Russland und den USA dennoch die Chance für eine neue Identität Europas?

Europa muss jetzt, mehr als jemals zuvor, eine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik betreiben. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Deutschland und Frankreich bereits die Idee einer autonomeren europäischen Sicherheitsrolle für die EU ins Spiel bringen. Die Entwicklungen in Polen und Ungarn werden es der EU zwar erschweren, sich zu einigen. Dennoch, auch wenn die Bedrohung aus Russland und die Spannungen mit den USA ein Risiko darstellen, glaube ich, dass sich hier die Chance bietet, eine effektivere Außen- und Sicherheitspolitik voranzutreiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Ost Europa hat natürlich eine Kolonialgeschichte als Opfer von deutschem und sovietischem Kolonialismus.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @83379 (Profil gelöscht):

      Das fing nicht erst im 20. Jahrhundert an. Es begann spätestens mit den drei Teilungen Polen-Litauens im 18. Jahrhundert und zwar zwischen Preußen, Östereich und Rußland.

  • Schade, dass der Autor die einzige Schwachstelle von Herrn Krastev ausgerechnet in die Überschrift gepackt hat.

     

    Die demographischen Fakten in den Staaten Osteuropas beweisen das Gegenteil: in den Staaten Osteuropas haben die Menschen eher mehr Erfahrung im Zusammenleben mit Fremden in einer Gesellschaft.

     

    Ungarn leben traditionell mit Deutschsprachigen und Lovara zusammen. Rumänen leben seit Jahrhunderten mit Deutschen, Ungarn, Kalderash und mehreren kleinen Minderheiten zusammen.

    Zu Polen hat Deutsch-Pole schon was ausgeführt. Über die heterogene Bevölkerungsstruktur in Bulgarien müsste Herr Krastev bestens informiert sein.

     

    Ansonsten ist das Interview aber wirklich lesenswert und interessant.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @rero:

      Etwas differenzierte könnte man sagen, dass die meisten Staaten Mittel- und Ostueropa in den letzten 100 Jahren keine bis nur wenig Erfahrung mit Einwanderung gemacht haben (In den Jahrunderte davor sah es dagegen anders aus). Die meisten dieser Staaten haben in jüngster Vergangenheit eher eine Erfahrung mit Auswanderung und in der ersten hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem mit eigener Zwangsumsiedlungen und Verschleppungen durch Krieg und Gewaltherrschaft.

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    "Osteuropäische Länder haben keine Kolonialgeschichte. Sie sind es weniger gewohnt, mit vermeintlich Fremden in einer Gesellschaft zu leben, als Westeuropäer. In einem Land wie Polen wurde die ethnische Homogenität zum Fundament des Nationalstaats."

     

    Also mal abgesehen davon, dass Polen nicht in Osteuropa sondern in Mitteleuropa liegt und auch westlichen (u.a. dem röhmisch-katholisch geprägten) Kulturkreis gehören, so hatte Polen-Litauen durchaus - wenn auch kurze - Kolonialgeschichte denn das zum poln.-litauischen Königreich gehörende Kurland hatte im 17. Jahrhundert Kolonien in Amerika und Afrika. Nur war die Phase zu Kurz um noch heute Spuren innerhalb Polens zu hinterlassen. Jedenfalls ist diese sogenannte ethnische Homogenität Polens ein Ergebniss des Zweiten Weltkrieges und der damit einhergehenden und darauffolgenden Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen. In der 2. Polnischen Republik war die Bevölkerung wesentlich multikultureller mit all seinen positiven und negativen Begleiterscheinungen und das polnisch-litauische Commonwealth entwickelte sich nicht nur zur ersten Demokratie mit moderner Verfassung in Europa sondern war in Form einer Föderation ein erfolgreicher - da nach innen weitegehend friedlicher - Vielvölkerstaat. Herr Ivan Krastev macht es sich also allzueinfach, oder fehlen ihm etwa die historischen Kenntnisse?

    • @4845 (Profil gelöscht):

      "Kurland hatte im 17. Jahrhundert Kolonien in Amerika und Afrika"

       

      Danke, das kannte ich auch noch nicht.

       

      Um ehrlich zu sein, war mir das Herzogtum Kurland und Semgallen sogar unbekannt.

      • 4G
        4845 (Profil gelöscht)
        @delta:

        Bitte. Na ja, damals waren Herrschaftsgebiete teilweise so kleinräumig bis diese dann in größere Gebilde aufgegangen sind. Also ich kenne auch nicht alle kleinen Fürstentümer des Heiligen Römischen Reiches auswendig... ;-) kein Beinbruch.

  • wenn ich mich recht erinnere, waren Ungarn, Bulgarien, Griechenland, Serbien und Rumänien mal Kolonien der Türken. Diese Länder haben also Kolonialerfahrung, wenn auch nicht so wie der Autor diese anzunehmen scheint. Auch Polen war mal eine Kolonie der Russen und der Deutschen, die haben auch genug Erfahrung mit Fremden.

    • @Gerald Müller:

      Wenn ich den Artikel richtig verstehe, geht dem Autor bei dem Begriff Kolonialgeschichte darum, Kolonien gehabt zu haben, nicht Kolonie gewesen zu sein.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @Gerald Müller:

      "Auch Polen war mal eine Kolonie der Russen und der Deutschen, die haben auch genug Erfahrung mit Fremden."

       

      Sie haben Österreich bzw. das spätere Östereich-Ungarn vergessen.