Politologe über Erinnerungspolitik: „Die Vergangenheit ist kein fremder Ort, kein anderes Land“
Der Kommunismus- und Faschismusforscher Vladimir Tismăneanu ist besorgt der erinnerungspolitische Kurs Rumäniens – gerade in Zeiten Trumps und Putins.
taz: Herr Tismăneanu, Sie hielten den neu gewählten rumänischen Präsidenten Nicușor Dan bei Amtsantritt für einen Hoffnungsträger. Jetzt werfen Sie ihm mangelnde Empathie im Umgang mit historischen Fragen vor. Warum?
Vladimir Tismăneanu: Ich bin Wissenschaftler, Professor und öffentlicher Intellektueller. Amerikaner und Rumäne. Oder, wenn Sie so wollen, Rumäne und Amerikaner. Ich bin moralisch besorgt. Ein Land, das zugleich Mitglied der Nato und der EU ist, wird erneut von totalitären Geistern heimgesucht. Das in Rumänien vorgeschlagene Anti-Extremismus-Gesetz wurde von Präsident Nicușor Dan mit der Forderung nach einer Präzisierung des Begriffs „faschistisch“ zurückgewiesen. Es wirkt befremdlich, dass eine solche Bitte von jemandem kommt, der in den 1990er Jahren in Paris studiert und dort seinen PhD erworben hat.
taz: Weshalb?
Tismăneanu: Präsident Dan war damals vielleicht zu sehr beschäftigt, um zur Kenntnis zu nehmen, dass der französische Präsident im Jahr 1995 öffentlich die Verantwortung des französischen Staates für dessen Beteiligung am Holocaust anerkannte und um Entschuldigung bat. Zunächst hatte ich den Eindruck, dass der rumänische Präsident die Tragweite seiner Geste nicht vollständig erfasst hatte. Doch die Auszeichnung eines 107-jährigen Kriegsveteranen am 1. Dezember 2025 – für dessen Teilnahme an Operationen gemeinsam mit der Wehrmacht oder in eigener Verantwortung – ist in höchstem Maße verstörend.
geboren 1951 in Brașov, ist ein rumänisch-amerikanischer Politikwissenschaftler. Als Kritiker des kommunistischen Regimes verließ er Rumänien und lebt seit 1982 in den USA, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete. Seit 1990 ist er Professor an der University of Maryland und leitet dort das Center for the Study of Post-Communist Societies.
taz: Liegt es an mangelhafter Aufarbeitung des Faschismus in Rumänien?
Tismăneanu: Die Auseinandersetzung Rumäniens mit seiner Vergangenheit bedeutet, sowohl die faschistische als auch die kommunistische Erfahrung zu verarbeiten. Es gibt eine gewisse Nostalgie für die kommunistische Vergangenheit, doch sie ist weit weniger ausgeprägt und artikuliert als die Verklärung der extremen Rechten. Keine politische Partei verherrlicht den kommunistischen Terror.
taz: Was machen die Rechtsextremen?
Tismăneanu: Die AUR (Allianz für die Vereinigung der Rumänen) hingegen zeigt keinerlei Skrupel, die Rituale der Eisernen Garde zu imitieren. Was die Eiserne Garde betrifft, so schwelen ihre Hinterlassenschaften in dunklen Winkeln des Internets weiter – und unter jenen, die eine liturgische Austreibung der angeblichen „Plage des Globalismus“ propagieren. Diese Narrative habe ich bereits in meinem Buch „Fantasies of Salvation“ untersucht.
taz: Sind Nicușor Dans erinnerungspolitische Positionen eine Art Beschwichtigung gegenüber Donald Trump?
Tismăneanu: Es geht eher um den Versuch, jene Kräfte zu besänftigen, die Donald Trump und sein Umfeld, insbesondere J. D. Vance und der frühere US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, in Rumänien fördern. Gemeint sind etwa AUR und das gesamte „souveränistische“ Spektrum. Nicușor Dan stammt aus Făgăraș im Kreis Brașov, einer Gegend, in der antikommunistische Partisanen in den frühen 1950er Jahren einen erbitterten Guerillakampf führten.
Einige, wenn auch keineswegs alle dieser Kämpfer, waren zuvor Mitglieder der Jugendorganisation der Eisernen Garde (der „Kreuzbruderschaften“) gewesen. Die lokale Folklore hat die Geschichte dieser Partisanen romantisiert. In diesem Umfeld lernte Dan die politische Tradition des Widerstands kennen, allerdings in einer idealisierten Fassung, die er für die historische Wahrheit hält.
taz: Inwiefern?
Tismăneanu: Für ihn erscheinen diese Akteure als Freiheitskämpfer, weshalb er sich schwertut, juristische Verurteilungen ihres Hintergrunds und ihrer Ideologie vorbehaltlos zu unterstützen. Ich vertrete hingegen die Auffassung, dass sich eine demokratische politische Kultur nicht auf einer fiktionalisierten Geschichtsdeutung errichten lässt, die von rückblickenden Wunschvorstellungen getragen ist. Faschisten waren Faschisten; ihr Gesellschaftsentwurf war nicht pluralistisch.
taz: Warum ist eine gerechte und verantwortliche Erinnerungspolitik entscheidend dafür, wie wir heute mit Regimen wie Putins Russland umgehen?
Tismăneanu: Die Vergangenheit ist kein fremder Ort, kein anderes Land. Sie ist keine Terra incognita, sondern ein Terrain aus Fakten, Emotionen, Träumen und Irrtümern. In jeder Gegenwart sind Fragmente der Vergangenheit aufgehoben. Sie liegen den Verwerfungen der Gegenwart zugrunde, sie erhellen sie – und sie weisen Wege aus den labyrinthischen Verstrickungen, in denen wir uns wiederfinden.
taz: Das heißt konkret?
Tismăneanu: Putins Russland ist eine Diktatur, deren Fundament aus Unwahrheiten über Vergangenheit und Gegenwart besteht. Es ist im Kern und unwiderruflich verlogen. Putin verkörpert die zeitgenössische Form des Homo Sovieticus – oder genauer: des Homo Post-Sovieticus, der westliche Werte, Normen und Institutionen verachtet.
Einst existierte so etwas wie ein bolschewistisches Ethos; Arthur Koestler hat sich in seinem Roman „Sonnenfinsternis“ genau damit befasst. Putin dagegen ist an keinerlei ethischen Kodex gebunden. Er ist ein politischer Gangster, getrieben von einem alles verzehrenden Hunger nach unbeschränkter, absoluter Macht.
taz: Hat Rumänien knapp vermieden, einen Präsidenten George Simion zu wählen – einen rechtsextremen, ultranationalistischen Kandidaten –, nur um sich am Ende für ein „geringeres Übel“ zu entscheiden?
Tismăneanu: Ich glaube nicht. Simion ist ein Faschist. Er begann seine Laufbahn als Ultra in den Fußballkurven. Von ihm sind Äußerungen dokumentiert, in denen er die Legionäre der Eisernen Garde lobt. Kritiker bedroht er mit der Aussicht, man werde sie eines Tages „bei lebendigem Leib häuten“. Nichts davon findet sich bei Nicușor Dan – einem milden, leisen, im Westen ausgebildeten Mathematiker, der seine bürgerschaftliche Laufbahn mit einer Rettungsinitiative begann.
Für Simion gehört verbale und potenziell körperliche Gewalt zur Grundausstattung. Dan hingegen ist ein aufrichtiger Bewunderer der EU, ein Atlantiker. Seine prekäre historische Bildung ist zweifellos eine Schwäche, doch AUR und Simion repräsentieren eine Fortsetzung jenes totalitären Bösen, dem Rumänien und Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren. Ich sehe Dan in keiner Weise auf einem ähnlich verhängnisvollen Weg.
taz: Im Gegensatz zu den USA?
Tismăneanu: Trumpismus ist selbst eine Ideologie: eine reaktionäre Utopie, gespeist aus einem grotesken Personenkult und einem intellektuellen Kauderwelsch, das auf kaum verstandenen Quellen mystischer Esoterik beruht. Nicht Trump persönlich, aber einflussreiche Figuren in seinem Umfeld bewundern die Kritik des Staatsrechtlers Carl Schmitt an der parlamentarischen Demokratie. Totalitarismus bedeutet Ideologie plus Terror – oder, wenn man so will, die ideologische Rechtfertigung von Terror. Dies gilt nicht für politische Doktrinen wie demokratischen Sozialismus, Liberalismus oder Konservatismus.
taz: Wie lässt sich eine Welt stabilisieren, die aus ihrer Balance gerät?
Tismăneanu: Mein Vorschlag lautet: Misstraut jenen Projekten, die universellen Frieden und globales Glück verheißen. Hegel hatte recht: Die Weltgeschichte ist kein Boden des Glücks. Wenn ich über politischen Radikalismus lehre, ermutige ich meine Studierenden, Albert Camus’ „Der Mensch in der Revolte“ zu lesen.
taz: Was lässt sich daraus lernen?
Tismăneanu: Vollständige Stabilität wird es nie geben, aber wir müssen die Gefahr der Selbstauslöschung durch den irrationalen Einsatz von Technologie minimieren. Der oberste Wert, die leitende Norm, heißt Verantwortung.
taz: Sie schrieben einmal, dass, wer in einer Diktatur des Wahnsinns gelebt habe, keinen magischen Realismus brauche. Im Mittelpunkt der Literatur von Mircea Cărtărescu zum Beispiel stünde der Mensch, zerbrechlich, verletzlich, hypersensibel, neurotisch, asthenisch, bedroht. Sie sei alles andere als magisch, denn sie beruhe auf dem Geheimnis der inneren Freiheit. Eine Diktatur hingegen sei vulgär, brutal, dumm und verdummend. Wie verteidigen wir unsere innere Freiheit gegen diese Gefahren?
Tismăneanu: Der polnische Dichter Aleksander Wat sagte, das Ziel des Kommunismus sei die Zerstörung des inneren Menschen. Totalitäre Herrscher wollen nicht nur gefürchtet, sie wollen auch geliebt werden. Doch Liebe entzieht sich jedem äußeren Befehl und kann nicht erzwungen werden. Sie ist ein unaufhebbarer Bestandteil unseres Innenlebens.
Und Sie haben recht: Cărtărescus Prosa ist eine Verteidigung des Rechts zu lieben – trotz aller Bemühungen des Großen Bruders und seiner ideologischen Vollstrecker, die innere Autonomie zu verdunkeln. Wenn es eine Ideologie gab, die der Erzählung des Aufbegehrens in den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks zugrunde lag, dann war es die der Ablehnung der herrschenden Ordnung im Namen der Menschenrechte. Ich denke an Agnieszka Hollands Film „Burning Bush – Die Helden von Prag“ über Jan Palach. Die unlöschbare Flamme der Freiheit.
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