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Politischer Diskurs in Corona-KriseDer ganz große Resetknopf

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Die Coronakrise wirbelt viele Gewissheiten durcheinander. Sie zwingt Liberale und Linke dazu, eingeschliffene Narrative zu überdenken.

Auf Abstand: Abgeordnete bei der Abstimmung über den Nachtragshaushalt Foto: Michael Kappeler/dpa

C orona ist ein riesiger roter Resetknopf, der plötzlich gedrückt wurde. Es fährt das gesellschaftliche und ökonomische Leben fast komplett auf null herunter, aber nicht nur das. Auch der politische Diskurs erlebt gerade einen Neustart, weil das Virus eingeschliffene Ideologien, Narrative und Reflexe pulverisiert. Nach dieser Krise wird vor allem eines gelten: Alles ist anders.

Da wäre zum Beispiel der Neoliberalismus, der auch die deutsche Politik seit den 1990er Jahren fest im Griff hatte. Diese Ideologie ist tot. Ihre heiligen Regeln lauteten: Privat vor Staat. Der Staat müsse schlank, also nicht zu teuer sein, der Markt regele alles Weitere. Solch liberale Binsenweisheiten kann im Angesicht von Corona niemand mehr sagen, ohne ausgelacht zu werden. Jetzt zeigt sich: Es braucht einen starken Staat mit Geld, Institutionen und Ordnungspolitik, damit die Marktwirtschaft überleben kann. Schlank ist tödlich, Fettpölsterchen sind überlebenswichtig.

600 Milliarden Euro stellt die Regierung in diesen Tagen bereit, um Großunternehmen zu retten. Mit der gigantischen Summe sollen Firmen notfalls verstaatlicht werden. Erinnert sich noch jemand an den liberalkonservativen Aufschrei, als Juso-Chef Kevin Kühnert ein paar Gedanken zu Vergemeinschaftung veröffentlichte? Eine solche Debatte wäre heute schlicht nicht mehr vorstellbar. Selbst Hardcore-Liberale befürworten in diesen Tagen die Renaissance des starken Staates.

Christian Lindner zum Beispiel argumentiert wie ein überzeugter Keynesianer. Der Staat, sagt er, müsse „alle fiskalischen Möglichkeiten in die Waagschale werfen“, um einen Strukturbruch zu verhindern. Und wo wir gerade bei Mythen sind, die von der Zeit überholt wurden: Wer sind doch gleich die Leistungsträger der Gesellschaft? Welt, FAZ und Co. haben in den vergangenen Jahren stets Gutverdiener mit diesem Lob geadelt. Je höher das Einkommen, so die vulgärökonomische Logik, desto wertvoller für die Gesellschaft.

Ulrich

Schulte

leitet das Parlamentsbüro der taz.

Das Virus hat diese Erzählung als das entlarvt, was sie immer war: eine Lüge. Die wahren LeistungsträgerInnen der Gesellschaft sind andere. Sie pflegen alte Menschen, steuern Krankenwagen, bringen den Müll weg oder sitzen an Supermarktkassen. In der Regel schlecht bezahlt, sorgen sie im Moment dafür, dass der Kern des gesellschaftlichen Lebens nicht kollabiert. Diese Leute haben nicht nur Wertschätzung verdient, sondern auch die Fürsorge der Politik und Solidarität bei der nächsten Tarifverhandlung. Für Applaus vom Balkon kann man sich nichts kaufen.

Wahr ist aber auch: Es wäre intellektuell etwas armselig, die Krise ausschließlich entlang eigener Überzeugungen zu interpretieren. Nicht nur Marktliberale sollten sich hinterfragen, auch auf die Linke kommt einige Denkarbeit zu. Und jene geht weit darüber hinaus anzuerkennen, dass Jens Spahn oder Markus Söder gerade einen guten Job machen. Bei vielen Linksliberalen gehört es zum guten Ton, den Nationalstaat verächtlich zu betrachten, als überholte Instanz, die der schönen, globalisierten Zukunft im Wege steht. Sie verstehen sich als weltoffene Kosmopoliten, und überzeugte Europäerinnen unternehmen Städtetrips nach Barcelona und New York.

Vereinigte Staaten von Europa? Pustekuchen. Ohne den Nationalstaat geht wenig, wenn es ernst wird

Die Grünen lieben diese Vision. Sie schreiben in ihrem Europawahlprogramm, dass sie eine breite Diskussion „über Unionsmodelle wie die Vereinigten Staaten von Europa, den föderativen Bundesstaat oder die Europäische Republik“ führen wollen. Vereinigte Staaten von Europa? Pustekuchen. Ohne den Nationalstaat geht wenig, wenn es ernst wird. Er ist der entscheidende Player, setzt die nötigen Regeln durch, er hilft und ordnet. Ihm vertrauen die Menschen eher als einer abstrakt wirkenden Staatengemeinschaft.

Überhaupt macht die EU gerade keine gute Figur, weil sie die Egoismen nicht bändigen kann. Einzelne Mitgliedsstaaten hamsterten Atemschutzmasken oder weigerten sich, medizinisches Gerät ins schwer betroffene Italien zu liefern. Sie produzieren lieber erst mal für den eigenen Bedarf. Die angebliche Wertegemeinschaft bläst zum Kampf gegen Corona, hat aber kein Problem damit, über 20.000 Geflüchtete auf einer griechischen Insel einzupferchen. Im Flüchtlingscamp Moria herrschen fürchterliche hygienische Zustände. Weiß der Himmel, was passiert, wenn dort Panik ausbricht. Die EU holen gerade ihre Fehler der Vergangenheit ein, besonders die brutale Austeritätspolitik. Es war die Troika der EU, die das überschuldete Italien im Jahr 2011 zwang, sein Gesundheitssystem drastisch zusammenzukürzen. Es ist deshalb Zeit, dass Linksliberale ihre Europa-Romantik beiseitelegen.

Der rote Resetknopf löscht auch Mechanismen, die in der Politik bisher sakrosankt waren. Regierung und Opposition arbeiten plötzlich zusammen. Selbstsüchtige Profilierungstendenzen werden erkennbar weniger. Dafür wächst der Mut, sich zu korrigieren. Viele PolitikerInnen glauben ja zu Unrecht, unfehlbar wirken zu müssen. Von einmal bezogenen Positionen abzurücken, galt als Zeichen der Schwäche. Dank der Krise wird die Fähigkeit, Fehler einzugestehen, zur Tugend. Da sie alle, PolitikerInnen, JournalistInnen und sogar ExpertInnen, in einen Zustand der Unwissenheit stößt. Der Virologe Christian Drosten, der den Gestus der Allwissenheit selbstbewusst ablehnt, wird zum Role-Model.

PolitikerInnen treibt stets die Furcht um, den BürgerInnen Unangenehmes zuzumuten. Die Diskussion über den Klimawandel ist geprägt von dieser Angst, in allen Parteien, auch bei den Grünen, ist Radikalität verpönt. Nun sind die Klima- und die Coronakrise strukturell schwer vergleichbar. Aber eine These lässt sich vielleicht doch übertragen: In der Coronakrise zeigt sich, dass Politik zu harten Maßnahmen fähig ist, wenn es ums Überleben geht. Und dass die allermeisten BürgerInnen bereit sind, mitzuziehen. Ob das beim Klimaschutz funktionieren kann, ist offen. Aber hoffen, das darf man doch.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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8 Kommentare

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  • Da ist in Analyse und Synthese doch manches durcheinander geraten. Nur um der schönen Ausgewogenheit willen nach beiden Seiten auszuteilen wird der Realität nicht gerecht:



    Spahn und Söder machen einen guten Job? Das sprechen doch alle Fakten dagegen! Spahn: Zuerst die Virologen als Panikmacher verächtlich machen, um dann die Mediziner zu Herrn des Geschehens zu machen - Nein, das kann's nicht sein!



    Und ein Söder, der auf den Putz haut und ebenso planlos den starken Max macht?



    Noch gravierender: Die EU hat sich ja gerade nicht als politische Union aufgestellt, sondern als "Super-EWG". Wenn die Troika Italiens Gesundheitssystem kaputt gespart hat, gleichzeitig aber den Steuerflüchtigen alle Scheunentore nach Panama... geöffnet hat, spricht das doch nicht gegen linken Internationalismus?



    Und, ja, vielleicht wird manchem jetzt klarer, was wirklich ein Problem ist! Die Flüchtlingswelle von 2015? Vergleichsweise ein Schnupfen gegen die Corona-Krise.



    Und, zu Mitschreiben: Die wirklich Leid tragenden leben in Afrika, Indien und Südamerika. Dort fehlen schlicht die Mittel für irgend einen wirksamen Schutz! Das wird ein Massensterben, dagegen war Ebola ein Heuschnupfen!



    Nein, wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Linken Internationalismus - Finanz-Internationalismus haben wir doch längst!

  • Der Nationalstaat ist in EUropa in der Tat bis zu einem gewissen Grad überholt und das gibt sich schlicht aus der historischen Entwicklung und den Anforderungen unserer Zeit. Man muss ihn deswegen nicht verächtlich betrachten aber für viele Dinge macht die Regelung auf europäischer Ebene viel mehr Sinn als auf nationalstaatlicher Ebene, aber natürlich gibt es auch Dinge bei denen die nationalstaatliche Regtelung mehr Sinn macht. Es geht danur um die sinnvolle Anwendung des Subsidiaritätsprinzip so wie wir es ja auch innerhalb Deutschlands als förderaler Staat tun.



    Der EU in dieser Krise vorzuwerfen sie mache eine schlechte Figur verdreht Ursache und Wirkung, denn sie kann nur eine schlechte Figur machen, weil die Nationalstaaten weder in der Vergangenheit noch jetzt bereit sind ihr die Mittel und Befugnisse an die Hand zu geben eine gute Figur zu machen. Die Nationalstaaten sind daher auch jetzt die eigentlichen Player mit allen negativen und widerwärtigen Begleiterscheinungen eines Nationalegoismus! Dabei beschränkt sich dieser Egoismus nicht auf den Nationalstaat, siehe das verhalten von Mecklenburg-Vorpommern oder des Landkreises Ostprignitz-Neuruppin.



    Es wiederholt sich zur Zeit das gleiche unsägliche Theater wie während der Finanzkrise nur das wir damals die Südstaaten finanziell haben im Regen stehen lassen und ihnen jetzt die Versorgung mit medizinischen Produkten verweigern! Nach der Krise werden wir die Südstaaten dann auch finanziell wieder im Regen stehen lassen, Euro-Bonds sind ja Teufelszeug, da müßte man doch mal echte Solidarität und Empathie zeigen.



    Eine Wende beim Klimaschutzist zu erwarten aber in Form eines Rollback denn die alte Wirtschaft muss ja nach der Krise wieder aufgebaut werden, eine Transformation ist von keinem der handelnden Personen in Deutschland zu erwarten, denn gute Krisenmanager mögen wir haben aber Visionäre mit Weitblick, die dafür sorgen das uns die nächste Krise erspart bleibt sehe ich nirgends.

  • Die dissoziale Markwirtschaft - eine Schönwetter-Veranstaltung

    Die Corona-Krise bietet in der Tat die historische Chance für einen globalen sozial-ökonomischen und ökologischen Regime-Change. Dem Bankrott des Komintern-Kommunismus leninistischer Spielart folgt nun derjenige des Hajek-Friedmann-Liberalismus. Das beginnt nun allmählich offensichtlich auch in einigen Köpfen der politischen Eliten zu dämmern: „Eine Krise wie diese kann vielleicht eine Tendenz beschleunigen, für die wir schon seit Jahren plädieren. Wir müssen in Richtung einer Gesellschaft gehen, die frei ist von fossilen Brennstoffen und in der Gesundheit und Bildung die zentrale Rolle spielen und in der auch eine Betonung des Solidaritätsgeistes vorstellbar ist.“ (J.-M. Blanquer, franz. Volksbildungsminister)

    Macron geht noch weiter:



    „Morgen müssen wir die Lehren ziehen aus dem, was wir gegenwärtig durchmachen, das Entwicklungsmodell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat und dessen Mängel nun ans Licht kommen, die Schwächen unserer Demokratien hinterfragen. Eines hat sich durch diese Pandemie schon jetzt herausgestellt: Die kostenlose Gesundheit, unabhängig vom Einkommen, Stellung und Beruf, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe, wenn das Schicksal zuschlägt. Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, daß es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen. Es ist verrückt, unsere Ernährung, unseren Schutz, die Gestaltungsfähigkeiten unseres Lebensrahmens im Grunde an andere zu delegieren. Wir müssen die Kontrolle darüber zurückgewinnen, mehr noch als bisher ein souveränes Frankreich und Europa errichten, ein Frankreich und Europa, das sein Schicksal fest in die Hand nimmt. Die kommenden Wochen und Monate werden Entscheidungen erfordern, die in diesem Sinne einen Bruch darstellen. Ich werde die Sache in die Hand nehmen.“ ( beide Zitate in eigener Übersetzung)

    • @Reinhardt Gutsche:

      Merci beaucoup, Monsieur.



      Nur was meint er mit Europa? Die EU?



      Ob mit der EU in dieser Verfassung da was zu machen ist? Die Erweiterungsstaaten ticken neoliberaler, da geht's nicht mehr ums Kollektiv.

  • Sehr guter Artikel. Im Zuge der Coronavirus-Krise ist endlich vom Neoliberalismus und den Folgen seiner Politik die Rede. Etwas, das in der Presse kaum jemals erwähnt wurde. Die fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas haben es gesagt, und von Europa aus wurden sie als Populisten gebrandmarkt. Vielleicht ist dies auch eine Gelegenheit für einen neuen Blick und ein tieferes Verständnis der politischen Realität Lateinamerikas.

  • "Der Staat müsse schlank, also nicht zu teuer sein, der Markt regele alles Weitere. Solch liberale Binsenweisheiten kann im Angesicht von Corona niemand mehr sagen, ohne ausgelacht zu werden." Der Markt würde schon alles Weitere regeln, nur nicht so, wie das einige Neoliberale gern hätten. "Der Markt" würde jetzt die Lufhansa, die großen Reiseanbieter, viele Mittelständler, große Teile des Kulturbetriebs erst einmal wegfegen, bevor sich irgendwann, zum absehbaren Ende der Krise, neue Strukturen herausbilden würden. Das würde ein Heulen und Zähneklappern, auch bei den großen Investoren und Anteilseignern bis hin zu den Miethaien geben, nicht nur bei den Solo-Selbstständigen und Kurzarbeitern. Die Marktwirtschaft würde das trotzdem überleben. Nur den Menschen würde es deutlich schlechter ergehen.



    Die Steuerausfälle und die Sozialkosten wären dann um ein Vielfaches höher. Es ist also auch im Interesse des Staates, den Absturz abzufedern. Die angedachten staatlichen Beteiligungen verstehe ich als eine Art Rücksicherung des Staates auf den immensen Mitteleinsatz für private Firmen in Schieflage, um im Ernstfall Zugriff auf Werte und Vermögen zu behalten. Dass Staatsbetriebe die besseren Wirtschafter wären, darf weiterhin bezweifelt werden, wenn man sich die bekannten Akteure ansieht.



    Wollen wir mal hoffen, dass die Erfahrungen aus der Finanzkrise und jetzt der Pandemie bei der Mehrzahl der Ökonomen zur kritischen Überprüfung bekannter Wirtschaftsmodelle und vielleicht zu neuen symbiotischen Beziehungen zwischen freiem Unternehmertum und staatlicher Fürsorge führt.

  • "Liberal" hat aber eine keyensianische Mittel in der Krise nie ausgeschlossen, dass sind dann eher Steinzeitlibertäre wie Ayn Rand. Der Liberalismus will aber Keynesianismus nicht zum Regelinstrument der Wirtschaftspolitik machen, weil dann in guten Zeiten das Pulver verschossen wird, was in Notzeiten gebraucht wird. Wenn man sich also stets die Konjunktur durch Staatsausgaben gepimpt hätte, und zwar selbst in Phasen guter Konjunktur hätten wir jetzt wahrscheinlich eine Staatsverschuldung von mind. 150 % des BIP und nicht von 60 % wie jetzt. Da wäre Frage, ob man dann die Bazooka überhaupt hätte finanzieren können.

    Bei den linksliberalen Euroenthusiasten gebe ich Herrn Schulte Recht. Wobei ein Grundsatz der EU eigentlich ja auch die Subsidiarität ist; d.h. Entscheidung werden nur dann auf der höheren Ebene getroffen, wenn die betreffende Ebene nicht handeln kann. Linksliberale wollen aber tendenziell, dass alles in Brüssel entschieden wird.

    • @rawjr:

      Ich kann Ihnen nur zustimmen.



      Wer so regieren möchte, als hätten wie immer eine Corona-Krise hat keine Möglichkeit mehr zu reagieren, wenn eine echte Krise ausbricht.

      Deswegen sind mir die eher liberaleren lieber. Denn sie können ihr Handeln der Situation anpassen. Die Linken fordern nur das, was sie schon immer gesagt haben.



      Wenn ich nur einen Hammer habe sieht jedes Problem aus wie ein Nagel.