Politische Verantwortung: Jenseits der Scheindebatte
Nach der Messerattacke von Aschaffenburg geht es vor allem um Abschiebungen. Doch wer kümmert sich um Prävention?
Unstrittig ist, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mehrere Monate brauchte, um die bayerischen Behörden zu informieren, dass Bulgarien den Mann zurücknehmen wollte. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte, seinen Behörden seien dann nur noch wenige Tage verblieben, um den Mann fristgerecht abzuschieben. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte dagegen, es seien noch volle sieben Wochen Zeit gewesen.
Der Mann wurde jedenfalls nicht abgeschoben, für seinen Asylantrag war deshalb Deutschland verantwortlich. Bearbeitet wurde er bis Ende 2024, als der Mann ihn von sich aus zurückzog und seine freiwillige Ausreise ankündigte. Wohl auch, weil er die dafür nötigen Papiere vom afghanischen Generalkonsulat nicht erhalten hatte.
Diskutiert wird jetzt über die psychische Verfasstheit O.s. Der 28-Jährige wurde am Donnerstagabend in eine Psychiatrie eingewiesen. Bayerns Innenminister Herrmann sprach von Hinweisen auf eine paranoide Schizophrenie. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat als einzige Maßnahme angekündigt, Regelungen für die Einweisung in Psychiatrien „härten“ zu wollen.
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„Das ist doch keine Asylfrage“
Der Co-Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, kritisierte, dass der psychische Zustand des mutmaßlichen Täters so wenig Aufmerksamkeit erhält: „Das ist doch keine Asylfrage. Das ist doch eine Frage, wie gehen wir mit psychisch kranken Gewalttätern um.“
Auch Flüchtlingsorganisationen fordern, psychologische Beratungsangebote für Geflüchtete zu stärken. „Nur eine frühzeitige Diagnostik und angemessene psychiatrische und psychosoziale Versorgung können Attentaten wie diesen in Aschaffenburg vorbeugen“, sagte Jana Weidhaase, Sprecherin des Bayerischen Flüchtlingsrats.
Bundesweit wurden die Mittel für psychologische Beratungsangebote für Geflüchtete in letzter Zeit jedoch um etwa die Hälfte gekürzt. Dabei leiden bis zu einem Drittel aller Geflüchteten an posttraumatischen Belastungsstörungen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hatte im September mitgeteilt, dass nur 3 Prozent der Asylbewerber*innen derzeit die psychologische Betreuung erhalten, die sie brauchen.
Gleichzeitig betonen Expert*innen, dass traumatisierte oder depressive Personen fast nie gewalttätig würden. Besonders schwere Krankheiten wie Schizophrenie seien viel seltener. Menschen, die unter solchen Krankheiten leiden, würden tatsächlich signifikant öfter gewalttätig als der Durchschnitt. Das bedeute im Umkehrschluss aber nicht, dass alle psychisch kranken Menschen gewalttätig seien.
Der Fall fügt sich in ein Muster ein
Der mutmaßliche Täter von Aschaffenburg war den Behörden schon vor der Messerattacke bekannt. Gegen ihn liefen mehrere Verfahren. Einmal soll er unter Cannabiseinfluss in einem Polizeirevier eine Polizistin geschlagen und einem anderen Beamten nach dem Pistolenholster gegriffen haben. Andere Male soll er sich am Bahnhof Aschaffenburg vor zwei Polizisten entkleidet oder in einem Krankenwagen einen Sanitäter und Polizisten getreten haben. Schon 2023 soll er zudem in einem Ankerzentrum einen anderen Bewohner angegriffen haben.
Eine Zeugin berichtete auch von einem Angriff mit einem Messer. Nach zwei Vorfällen im Mai und August 2024 war er kurzzeitig in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht. In keinem Fall hätten die Voraussetzungen für einen Haftbefehl oder die längerfristige Unterbringung in einer Psychiatrie vorgelegen, sagt die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg.
Der Fall fügt sich in ein Muster ein. Auch der mutmaßliche Täter von Magdeburg, der im Dezember in einen Weihnachtsmarkt fuhr und sechs Menschen tötete, war psychisch auffällig. Bei Gewalttaten in Brokstedt, Berlin, Würzburg oder Trier war es ähnlich. Schon 2020 setzte die Innenministerkonferenz (IMK) deshalb eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein, um Indikatoren für eine Früherkennung von Amokläufern oder Attentätern zu finden. Die Gruppe legte 2023 einen internen Bericht vor, ein Abschlussbericht soll in diesem Jahr veröffentlicht werden.
Auch bei der jüngsten IMK stand das Thema wieder auf der Tagesordnung – erneut, ohne dass sich die Minister*innen auf konkrete Maßnahmen einigten. Brandenburgs damaliger Innenminister Michael Stübgen (CDU) verlor deshalb die Geduld. Die Zahl „herausragender schwerster Gewaltstraftaten durch Personen mit psychischen Erkrankungen“ nehme seit Jahren zu, es gebe einen „erhöhten Handlungsdruck“, erklärte er laut einer Protokollnotiz. Bis heute gebe es nur in wenigen Bundesländern Konzepte für ein „einheitliches Bedrohungsmanagement“. Es brauche hier einen „notwendigen Impuls, um bestehende Defizite zu überwinden“.
Vorbild Nordrhein-Westfalen
Das Bundeskriminalamt (BKA) führte 2016 zumindest für terroristische Gefährder ein System zur Risikobewertung ein. Anhand eines Fragebogens werden Gewaltneigungen oder soziale Bindungen eines Gefährders geprüft, um schwere Straftaten zu antizipieren. Auf Personen, die nicht politisch auffällig sind, wird das System bisher nicht angewandt.
BKA-Chef Holger Münch erklärte nach dem Magdeburg-Attentat hinter den verschlossenen Türen des Innenausschusses im Bundestag, die Aufgabe sei „nicht trivial“: Man könne auch schnell falsche Indikatoren finden und rede über eine „extrem hohe“ Zahl von auffälligen Personen, zu denen es zumeist nur lückenhafte Informationen gebe. Das Ziel sei, ein System aus polizeilichen Erfahrungswerten und wissenschaftlich fundierten Risikofaktoren zu entwickeln.
In Nordrhein-Westfalen wird dafür bereits seit 2022 das Projekt „Periskop“ von allen Polizeibehörden genutzt, das psychisch auffällige Personen aufspüren soll, die schwerste Gewalttaten begehen könnten. Die Annahme: Oftmals offenbaren Täter im Vorfeld ihre Gewaltabsichten, im Alltag oder online.
Erhalten Polizei oder Behörden solche Hinweise, werden zu den Personen Prüffälle angelegt. Die Polizei berät dann mit Gesundheits- oder Ausländerbehörden, mit Psychiatrien oder Sozialarbeiter*innen, welche Maßnahmen die Person „stabilisieren“ können. Insgesamt 7.431 Fälle seien inzwischen bearbeitet worden, sagte ein Sprecher des NRW-Innenministers Herbert Reul (CDU) der taz. Aktuell seien 362 Personen „mit Risikopotenzial“ eingestuft gewesen. Auch mit dem Programm habe man keine hundertprozentige Sicherheit, sagte Reul zum Projektstart. Aber ein Pilotversuch habe sich „mehr als bewährt“, um Verdachtsfälle zu erkennen. Kritik, dass psychisch Erkrankte stigmatisiert werden könnten, wies Reul zurück.
In den meisten anderen Bundesländern fehlen solche Projekte bis heute, obwohl Expert*innen schon länger bundesweite Programme zur Früherkennung fordern, einen besseren Behördenaustausch – und deutlich mehr Personal in psychiatrischen Ambulanzen.
Ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums betonte gegenüber der taz, dass es in Bayern bereits seit Ende 2021 ein Konzept zur Risikoanalyse gebe und eine eigene Servicestelle beim LKA. Gut 100 Personen mit psychischen Auffälligkeiten seien seitdem behördenübergreifend bearbeitet worden. Nur: Enamullah O. war nicht dabei.
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