Politische Morde im Irak: Im Visier der Todeskommandos
Über zwei Dutzend junge Reformer wurden im Irak Opfer gezielter Anschläge. Am Wochenende wurden zwei weitere Aktivisten niedergeschossen.
Aktivist gegenüber der BBC
Am gefährlichsten ist der Dissens in Süden des Landes, in dem schiitische Parteien und deren Milizen den Ton angeben. Dort kämpfen schiitische Milizen und die Reformaktivisten um die innerschiitische Deutungshoheit.
Am vergangenen Wochenende schlugen die Todeskommandos dort gleich zwei Mal zu. Zunächst wurde der sogenannte Held von Kerbala, der lokale Aktivist Ihab Dschawad al-Wasani, am Sonntagmorgen vor seinem Haus in der südirakischen Stadt niedergeschossen und war auf der Stelle tot.
Wenige Stunden darauf kam es in der südirakischen Stadt Diwanija zu einem weiteren Mordanschlag. Der für seine Kritik an den Verhältnissen in seiner Stadt bekannte Fernsehjournalist Ahmad Hassan wurde ebenfalls niedergeschossen. Er schwebt in Lebensgefahr.
Keine Bekennerschreiben
Seit die Proteste im Irak letzten Oktober begonnen haben, wurden mindestens 30 Aktivisten auf ähnliche Art und Weise gezielt erschossen. Dutzende andere wurden entführt. Verantwortlich zeichnet niemand. Aber die Jugendlichen, die in Kerbala, Diwanija und Nassrija nach dem Anschlag auf al-Wasani wütend auf die Straße gingen, Reifen anzündeten und Straßen blockierten, ließen wenig Zweifel daran, aus welchen Reihen die Mörder ihrer Meinung nach stammen.
„Jedes Kind weiß, woher die Mörder kommen. Sie stammen aus den Reihen der bewaffneten Milizen, die von anderen regionalen Mächten unterstützt werden“, sagte der Demonstrant Said al-Sumeri in Kerbala gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Ein anderer, nicht namentlich genannter Aktivist wurde gegenüber dem arabischen Dienst der britischen BBC noch deutlicher: „Verantwortlich sind die vom Iran unterstützten Milizen. Sie werden uns noch alle töten. Sie bedrohen uns, während unsere Regierung schweigt.“
„Iran raus“ und „Das Volk möchte den Sturz des Regimes“, skandierten sie auf der Beerdigung al-Wasanis unter einem Meer irakischer Flaggen. Zuvor hatten Demonstranten Feuer an der Mauer und dem Eingang des lokalen iranischen Konsulats in Kerbala gelegt. Am Montag verurteilte der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Said Khatibzadeh, den Angriff auf seine diplomatische Vertretung und erklärte, es sei laut internationalem Recht die Pflicht der irakischen Regierung, das iranische Konsulat in Kerbala zu schützen.
Iraks Ministerpräsident Mustafa al-Kadhemi versprach den Demonstranten, alle Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Aber die Familie des ermordeten al-Wasani erklärte, dass sie keine offiziellen Beileidsbesuche akzeptieren werde, solange die Mörder nicht dingfest gemacht seien.
Zwischen allen Stühlen
Premier al-Khadhemi sitzt zwischen allen Stühlen. Proiranische Gruppen werfen ihm vor, eine Marionette der USA zu sein. Und die jungen Demonstranten sind von ihm enttäuscht, weil er es nicht geschafft hat, die versprochenen politischen Reformen durchzusetzen oder die Morde an Aktivisten aufzuhalten. Auch der ermordete al-Wasani hatte al-Khadhemi kritisiert. „Weißt du, dass sie uns töten und entführen, oder lebst du in einem anderen Land“, fragte er den Premier im Februar auf Facebook.
Die Morde stellen für viele irakische Aktivisten auch die für Oktober angesetzte Parlamentswahl infrage. Auf Twitter zirkuliert nach dem Mord an al-Wasani ein Hashtag, der zum Boykott aufruft. Nur in Abwesenheit der Milizen könne eine demokratische Atmosphäre geschaffen werden, heißt es dort.
Vielleicht ist es auch anderer Tweet von @HaydarSH, der die Stimmung unter den jungen irakischen Aktivisten am besten wiedergibt: „Ein Freund hat einmal gesagt, sterben sei das Leichteste im Irak. Ohne uns Rechenschaft abzulegen, werden wir uns niemals nach vorne bewegen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen