Politische Kultur in Verona: Stadt der Liebe – und Rechten
Verona gilt in Italien das „rechtsextremistisches Labor“. Doch immerhin eines mit harmonischer Architektur. Ein Lagebericht vor der Kommunalwahl.
Der Mord an Nicola Tommasoli ist das, was man einen Wendepunkt nennt. Es gibt ein Davor und es gibt ein Danach, obwohl manche versuchen, seine Bedeutung für die Stadt Verona kleinzureden. Tommasoli starb am 5. Mai 2008 im Alter von 29 Jahren, wenige Tage nachdem er überfallen und brutal zusammengeschlagen worden war. Seine Angreifer gehörten zu der lokalen rechtsextremen Szene, sie hatten ihn angesprochen und eine Zigarette verlangt.
Tommasoli war kein linker Aktivist, aber er hatte lange Haare, für die Extremisten war er also „anders“. Als er die Zigarette verweigerte, reagierten die fünf gewaltbereiten Männer mit Tritten und Faustschlägen, dann ließen sie ihn schwerverletzt liegen. Nicht in einem Vorort, sondern im Herzen der Altstadt, wenige Meter vom Haus der Julia entfernt.
In den Tagen nach dem Mord versuchte der damalige Lega-Bürgermeister Flavio Tosi den politischen Hintergrund des Angriffs kleinzureden. Er sprach von einem „isolierten Fall“, von einem Streit zwischen Jugendlichen. Nur dass in Verona – der „Stadt der Liebe“ per Definition, die wegen ihrer harmonischen Architektur weltweit bekannt ist – von isolierter Gewalt kaum die Rede sein kann.
Verona ist das, was viele in Italien ein „rechtsextremistisches Labor“ nennen, hier sind Gruppierungen wie CasaPound, Fortezza Europa, Forza Nuova oder Veneto Fronte Skinhead, die man zum Teil als neonazistisch bezeichnen könnte, besonders stark. Diese sind in der ganzen Region Venetien gut vertreten, aber besonders in Verona sorgen sie für ein „einschüchterndes Klima“, das sich an linke Aktivisten und als „anders“ wahrgenommene Menschen richtet, wie viele bestätigen. Und sie sind immer wieder Protagonisten gewalttätiger Episoden.
Rechtsextremismus in Verona hat eine lange Tradition
Die jüngsten Fälle liegen nur einige Wochen zurück und ereigneten sich wie häufig in den zentralen Stadtvierteln. Auch die Regierung in Rom ließ die Angelegenheiten nicht unkommentiert. „Das Netzwerk der Digos (der für Terror- und Extremismusbekämpfung zuständigen Polizeiabteilung; d. Red.) verfolgt mit besonderer und ständiger Aufmerksamkeit die Aktivitäten von Gruppen und Vertretern der radikalen Rechten“, sagte Innenministerin Luciana Lamorgese über die Stadt Ende März als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.
Der Rechtsextremismus in Verona hat eine lange Tradition. In der Stadt an der Etsch verbreitete sich der 1919 in Mailand gegründete Faschismus sehr früh und sehr schnell. Nachdem Italien sich 1943 aus dem Bündnis mit dem Deutschen Reich löste, war Verona eine für die Republik von Salò wichtige Stadt, hier errichteten die Deutschen außerdem die SS-Zentrale für das besetzte Italien. In den 1970er Jahren wurde Verona zu einem Zentrum für neofaschistische Terrororganisationen wie Ordine Nuovo und die Gruppe Ludwig. Letztere bestand aus einem Italiener und einem in Italien aufgewachsenen Deutschen und tötete mindestens fünfzehn Menschen in Italien und Deutschland – unter anderem Prostituierte, Drogenabhängige, Geistliche sowie Homosexuelle. Auch in den 1990er Jahren, als der politische Terror zurückging, blieb die Stadt ein fruchtbarer Boden für rechte Gruppierungen.
Eine wichtige Rolle für die rechtsextreme Bewegung spielt das Fußballstadion des Erstligisten Hellas Verona, insbesondere die Südkurve. „Das Stadion ist die Werkstatt, in der die Ultras seit den 1970er Jahren ihre Identität aufgebaut haben, die eng mit der Stadt verschweißt ist. Es ist der Ort, an dem sich die neofaschistische Plage gebildet hat, die Italiens extremistischste Fußballfans seit 45 Jahren prägt“, schreibt der Repubblica-Journalist Paolo Berizzi in seinem letzten Buch, das sich ausgerechnet dem Fall Verona widmet. Für seine Recherche über den Rechtsextremismus steht Berizzi unter Polizeischutz.
Im Stadion sind viele Extremisten Stammgäste, und dort finden viele der Bedrohungen und Provokationen statt, die italienweit für Schlagzeilen sorgen. In den 1990er Jahren wurde aus Protest gegen den Kauf eines Fußballers eine Schwarze Gliederpuppe aufgehängt, Spieler of Color werden dort nicht selten ausgepfiffen. Aber auch Süditaliener sind immer wieder Ziel von Beschimpfungen, wie vor Kurzem, als ein Banner mit den Geokoordinaten der Stadt Neapel und den Flaggen von Russland und der Ukraine aufgehängt wurde – eine subtile Aufforderung, die süditalienische Stadt zu zerbomben.
Nur ein jugendlicher Scherz?
Und die Politik? Manchmal verurteilt sie, meistens bagatellisiert sie. Der derzeitige Bürgermeister, der Anwalt Federico Sboarina der rechtspopulistischen Partei Fratelli d’Italia, ist selbst häufig im Stadion und kritisiert es jedes Mal, wenn Oppositionspolitiker oder Journalisten den Einfluss von rechtsextremistischen Gruppierungen in der Stadt thematisieren. Diese wollen nur „Schlamm auf Verona werfen“, sagte er zum Beispiel den lokalen Medien, nachdem manche Einwohner kurz vor dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus einen Flyer mit dem Bild von Benito Mussolini im Postfach fanden und sich beschwerten. Für den Bürgermeister handelte es sich in diesem Fall (und sowieso meistens) um goliardia, um einen jugendlichen Scherz. Und so scheinen einige in Verona zu denken.
„Das Problem der Stadt ist auch eine große Grauzone in der Bevölkerung, die diese Gruppierungen toleriert“, sagt Oreste Veronesi, Aktivist der linken Bewegung Potere al popolo. Denn es ist klar: Organisationen wie CasaPound oder Forza Nuova sind zahlenmäßig eine kleine Minderheit, aber eine, die sich durchsetzen kann. Im Jahr 2018 wurde eine an der Universität geplante Tagung über Migration und Geschlechtsidentität vorerst abgesagt. Offiziell wegen der Instrumentalisierung von verschiedenen Gruppierungen, de facto weil die extremistische Gruppe Forza Nuova Druck ausübte, wie Giovanni Zardini, Präsident der LGBTQI-Organisation Circolo Pink, sagt.
Und seit den 1990er Jahren gelten in der Stadt die sogenannten homophoben Beschlussanträge. Demnach verpflichtet sich der Stadtrat, „Maßnahmen nicht zu genehmigen, die darauf abzielen, die Rechte homosexueller Paare und die von natürlichen Familien, die aus Mann und Frau bestehen, anzugleichen“, wie es darin heißt.
Diese Anträge stellen ein Unikum in ganz Europa dar, meint Zardini. Und obwohl sie eher symbolischer Natur seien, weil die italienischen Gesetze sich darüber hinwegsetzen, seien sie für die LGBTQI-Community ein fatales Signal. Als er und seine Mitstreitenden vor vielen Jahren versuchten, selbst die Mitte-links-Stadtregierung zur Abschaffung dieser Anträge zu bewegen, fanden sie keine offene Tür. „Uns wurde vorgeworfen, die Gesellschaft spalten zu wollen“, sagt Zardini.
Rechte Gruppierungen und sehr konservativer Katholizismus
Laut der aus Verona stammenden Journalistin Giulia Siviero besteht die Besonderheit der Stadt in dem Draht, der rechte Gruppierungen und einen sehr konservativen Katholizismus verbindet. Vor einigen Jahrzehnten war diese Beziehung noch offensichtlicher, aber immer noch werden von einem Teil der Katholiken der Stadt antifeministische und homophobe Positionen vorangetrieben. Der für Siviero „eklatanteste Fall“ der letzten Jahre sei zweifellos der World Congress of Families, der 2019 zum ersten Mal in Italien stattfand – ausgerechnet in Verona, mit Unterstützung des damaligen Lega-Familienministers und gebürtigen Veronesers Lorenzo Fontana. Bei dem Kongress handelt es sich um ein jährliches Treffen von Erzkonservativen, die weltweit Lobbyarbeit betreiben für eine reaktionäre Familienpolitik. Entstanden ist er in den USA, zu den Geldgebern gehören auch russische Oligarchen.
Und die Opposition? Zum Mitte-links-Spektrum gehören gerade mal sechs von 37 Stadträten und -rätinnen. Natürlich gibt es liberale Stimmen in der Stadt, die haben aber laut Journalistin Siviero Schwierigkeiten, „politische Handlungsfähigkeit“ zu finden. Auch wortwörtlich: „Genehmigungen zur Nutzung von städtischen Räumen werden häufig nicht erteilt oder entzogen“, sagt sie.
Im Juni sind die Bürgerinnen und Bürger in vielen italienischen Städten zur Kommunalwahl aufgerufen. In Verona hat die Mitte-links-Koalition nur eine Chance: dass sie von der inneren Spaltung auf nationaler Ebene zwischen den rechtspopulistischen Parteien Lega von Matteo Salvini und Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni profitiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen