Politische Krise in den Niederlanden: Wenig Vertrauen in Premier Rutte
Nur kurz nach seinem Wahlsieg übersteht der Premierminister der Niederlande ein Misstrauensvotum. Er ist aber politisch stark angeschlagen.

Dass Rutte kurz nach einem klaren Wahlerfolg so mit dem Rücken zur Wand steht, hat mit dem komplexen niederländischen Modus der Koalitionsbildung zu tun. Dabei eruieren Vermittler zunächst, welche Parteien zu Verhandlungen bereit sind. Diese Rollen übernahmen Ruttes Parteikollegin Annemarie Jorritsma und Kajsa Ollongren, Innenministerin des letzten Kabinetts, die der linksliberalen Partei D66 angehört. Die beiden stärksten Parteien gelten in der künftigen Koalition als gesetzt.
Letzte Woche traten die Vermittlerinnen zurück. Ollongren, soeben positiv auf Corona getestet, war beim Verlassen des Parlaments fotografiert worden, und dabei wurden einige ihrer Verhandlungsaufzeichnungen sichtbar. Sie betrafen den populären christdemokratischen Abgeordneten Pieter Omtzigt. „Funktion anderswo“ war da zu lesen.
Omtzigt gilt als unverwüstlicher Volksvertreter, loyal gegenüber seinem Elektorat und äußerst kritisch gegenüber der Regierung. In der Kinderzuschlag-Affäre, die im Januar zu deren Rücktritt geführt hatte, galt er als Anwalt tausender fälschlich des Betrugs bezichtigter Eltern. Was sein Image betrifft, erscheint der Christdemokrat parteiübergreifend als eine Art Gegenpol zu Premier Rutte, der wegen seines Talents, sich aus belastenden Situationen herauszuwinden und Skandale politisch zu überleben, den Spitznamen “Teflon-Mark“ trägt.
Parlamentsdebatte bis 3 Uhr morgens
Das Foto der Notizen wurde jetzt so interpretiert, dass der kritische Omtzigt weggelobt werden solle, um einer neuen Koalition unter Ruttes Leitung nicht im Weg zu stehen. Der Premier, seit Januar nur noch kommissarisch und zur Bekämpfung der Coronakrise im Amt, betonte allerdings, in besagten Verhandlungen nicht über Omtzigt gesprochen zu haben.
Kurz bevor das Parlament am Donnerstag nun über das Scheitern der Verhandlungen debattieren wollte, wurde bekannt, dass die Rolle Omtzigts durchaus zur Sprache gekommen war. Rutte selbst regte demnach an, ihn “zum Minister zu machen“.
In der Debatte, die am frühen Nachmittag begann und sich bis drei Uhr nachts hinzog, geriet Rutte daher von allen Seiten unter massiven Druck. Dem versuchte er sich zu entziehen, indem er betonte, er habe nicht gelogen, sondern sich an seine betreffende Aussage nicht mehr oder “verkehrt“ erinnert.
Nach dem knapp übestandenen Misstrauensvotum ist eine erneute Rutte-Regierung weiterhin möglich. Wie schwer der politische Schaden des Premiers ist, zeigt aber, dass zugleich ein Missbilligungsantrag vom nahezu vollständigen Parlament angenommen wurde. Rutte verkündete spät nachts, er werde “furchtbar hart daran arbeiten, dass ich das Vertrauen zurückverdiene“ – eine Mission, die derzeit kaum möglich erscheint.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Trump, Putin und Europa
Dies ist unser Krieg
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt