Politische Gefangene in Russland: Postkarten in den Knast
Russische Aktivist*innen organisierten auf lokaler Ebene Unterstützung für Inhaftierte. Wegen des großen Zuspruchs geht das jetzt auch online.
D ie Zahl der politischen Gefangene in Russland steigt seit Ende 2019 rasant. Vor diesem Hintergrund haben Freiwillige und Aktivist*innen damit begonnen, in autonomen Moskauer Veranstaltungsräumen Treffen zu organisieren, bei denen man Postkarten und Brief an alle diejenigen schreiben kann, die aus politischen Gründen inhaftiert sind.
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Zu diesen Events kamen so viele Menschen, dass die Organisator*innen beschlossen, eine Website einzurichten, die auf der von der NGO Memorial geführten Datenbank der politischen Gefangenen in Russland basiert. Mit Hilfe eines Bots werden die Daten von Memorial auf diese Seite übertragen.
Man kann auf der Seite den Haftgrund auswählen, aus dem die Menschen ihre Strafe verbüßen, z.B. „aus Glaubensgründen“ oder „aus politischen Gründen“, die Adresse des Gefängnisses erfahren und eine Postkarte mit unterstützenden Worten schicken. Mit einem Klick bekommt man auch gleich Vorschläge, wie man seine Worte so wählt, dass der Brief oder die Karte durch die staatliche Zensur kommen.
Seit Februar 2022 ist die Zahl der politischen Gefangenen noch einmal angestiegen. Und auf der Website gibt es jetzt eine neue Kategorie: „Für den Frieden“. Mindestens 116 Menschen sind dort jetzt schon gelistet, die aus diesem Grund verhaftet wurden. Und ihre Zahl wächst. Es sind ganz gewöhnliche Russ*innen, die für Kommentare auf Social Media verurteilt wurden. Oder weil sie öffentlich über die vielen Opfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung gesprochen haben. Oder weil sie von jemandem denunziert wurden.
Die Seite „100 mal Solidarität“ ist eine ähnliche Initiative, mit der von Deutschland aus Briefe an politische Gefangene in Russlands Nachbarland Belarus geschickt werden können. Gestartet wurde diese Aktion 2020 von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) – gemeinsam mit der belarussischen Menschenrechtsorganisation Vjasna (Frühling).
„Neben der moralischen Unterstützung tragen die zahlreichen Briefe und Postkarten dazu bei, die Sicherheit der politischen Gefangenen zu gewährleisten. Die Gefängnisleitungen wollen keine unnötige Aufmerksamkeit. Wenn jemand viele Briefe bekommt, wird auch schnell bekannt, wenn ihm oder ihr im Gefängnis etwas zustößt“, sagt Ljoscha Minjailo, ein Polit-Aktivist, der selbst zwei Monate im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ saß und weiß, wie wichtig solche Unterstützung ist. Darum ist er einer der Mitorganisator*innen dieses Projekts „Svobota“ (nach dem russischen Wort für Freiheit, „Svoboda“ und dem Wort „Bot“; Anm. der Redaktion) und unterstützt das Team bei der technischen Umsetzung.
die Autorin arbeitet als Journalistin in Moskau. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Darüber, wie wichtig diese Unterstützung in Briefform für Inhaftierte ist, schreiben die Gefangenen auch häufig selber. Hier einige Aussagen von Häftlingen, die das Team von „Svobota“ zusammengetragen hat.
„Die Gefangenschaft gibt mir das Gefühl, ein körperloser Geist zu sein, als ob ich nur sehen, hören und denken kann, aber keinen Einfluss auf die Welt um mich herum habe. Mit Ausnahme der Briefe ist dies das Wenige, was mir erlaubt, mich noch wirklich lebendig zu fühlen.“ Das schreibt Wladimir Sergejew, der am 6. März 2022 auf dem Moskauer Puschkinplatz bei Antikriegsprotesten festgenommen und zu acht Jahren Haft verurteilt wurde.
„Die Briefe helfen uns, unsere innere Stärke zu bewahren, den Glauben an die Menschen und das Wichtigste: das Verständnis dafür, dass nicht alles umsonst ist. Dass wir hier nicht einfach so herumsitzen, sondern dass das auch einen Sinn hat, dass es Menschen zu sinnvollem Handeln motiviert. Die Postkarten stehen auf meinem Regal und zaubern mit jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich sie ansehe“, schreibt Maria Ponomarenko. Sie war in Barnaul zu sechs Jahren Straflager verurteilt worden.
„Je länger ich im Gefängnis sitze, desto kostbarer und wichtiger wird die Unterstützung, die durch die dicken Mauern, Gitter und Schleusen kommt“, schreibt der Aktivist und Schriftsteller Pawel Krysetschitsch, der wegen einer Suizid-Inszenierung auf dem Roten Platz eine fünfjährige Haftstrafe absitzt. „Diese Postkarten und Briefe sind wie Leuchttürme, die mir zeigen, dass in ‚Freiheit‘ immer noch gekämpft wird.“
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Ein Sammelband mit den Tagebüchern ist im Verlag edition.fotoTAPETA erschienen.
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