Politik und Essen: Fehlt die kulinarische Intelligenz?
Der Gastrokritiker Jürgen Dollase hat da ein Veränderungsangebot: Wir sollten uns anders mit dem befassen, was auf unseren Tellern liegt.
Könnten Sie sich vorstellen, jeden Sonntagabend den selben Film im Fernsehen zu sehen? Nicht die selbe Serie, also nicht immer Tatort, sondern immer den exakt selben Film, ein und die selbe Tatort-Folge. Jeden Sonntag.
Wäre vielleicht ein bisschen langweilig, oder?
Könnten Sie sich vorstellen jeden Sonntag, wenn Sie wieder in Ihrem Lieblingsrestaurant sind, das selbe Gericht zu bestellen? Immer Wiener Schnitzel mit Kartoffesalat? Jeden Sonntag?
Was spricht gegen die Currywurst? Viel, findet Deutschlands einflussreichster Gastrokritiker, Jürgen Dollase. Was 1968 damit zu tun hat, dass die Deutschen beim Essen so kleinbürgerlich sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. November 2013. Darin außerdem eine Geschichte zum Totensonntag: Ein Sohn nimmt Abschied von seiner Mutter, indem er ihre Gefrierschränke abtaut. Und der sonntaz-Streit: Die Energiekonzerne bangen um ihre konventionellen Kraftwerke – und prophezeien einen Engpass. Ist der Strom-Blackout Panikmache? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Wahrscheinlich schon eher, oder?
Womit der Missstand, den Jürgen Dollase wahrnimmt, zunächst einmal beschrieben wäre.
„Bildungsferne Redundanzesser“
Jürgen Dollase ist Deutschlands einflussreichster Gastrokritiker und für diese Menschen, die in ihrem Restaurant immer das selbe bestellen, sei es im Promi-Lokal Borchardt oder im Wienerwald, hat er einen Begriff gefunden: „bildungsferne Redundanzesser“.
„Bei Adornos Einführung in die Musiksoziologie gibt es Hörertypen und einer ist der Redundanzhörer“, sagt Dollase in der aktuellen taz.am wochenende im Gespräch mit Peter Unfried. „Das kann man eins zu eins auf Esser übertragen. Das ist der Esser, der immer das Gleiche essen will. Man kann Adorno weiterdenken: Diese Art zu essen ist zutiefst kleinbürgerlich und letztlich für Leute, die gern in autoritären Systemen leben, wo sie wissen, ich mache das Richtige.“
Das dürfte in Deutschland derzeit noch eine satte Mehrheit sein, weshalb Jürgen Dollase die kulinarische Emanzipation fordert. Es geht ihm darum, dass wir die Folgen unserer einseitigen kulinarischen Sozialisation überwinden, unsere Sinne öffnen, intensiver wahrnehmen und ein neues Qualitätsbewusstsein entwickeln.
„Bei Umweltverschmutzung reagiert man in Deutschland hysterisch“, stellt Dollase fest. „Aber die Verkopplung von Essen und Gesellschaft haben wir noch nicht verstanden. Wenn man aggressiv wäre, müsste man sagen: Schlecht essen ist wie sich nicht waschen.“
Dollase hat damit seine eigenen Erfahrungen gemacht. Er führte als Musiker der Band Wallenstein ein Leben zwischen Rock'n Roll und Roth Händle, bevor er zum Gastrokritiker wurde. Er musste die kulinarische Intelligenz, die er jetzt fordert, erst einmal für sich selbst entwickeln.
Erst Ekel akzeptieren, dann Schweinefett genießen
„Der Antrieb war meine Frau“, erzählt er in der taz.am wochenende. „Es war mir irgendwann peinlich, dass wir in Paris rumliefen, sie wollte gern ein Restaurant ausprobieren und ich konnte nicht reingehen, weil mir schon schlecht wurde, wenn ich nur an eine Garnele dachte. Garnelen waren für mich wie Regenwürmer. Als ich das erste Mal in der Bretagne vor einem Teller mit Austern saß, würgte es mich.“ Er habe dann, sagt er, die Freiheit entwickelt, erst mal alles in den Mund zu stecken.
Sie bedeutet manchmal auch, den Ekel zu akzeptieren, um dann zu erkennen, dass das schwabbelige Schweinefett einen ganz besonderen Geschmack entfaltet. Oder die Garnelen. Was nicht ganz einfach ist, weil wir nahrungsindustriell auf Zucker und Salz konditioniert sind, auf möglichst viel von beidem. Sonst schmeckt das ja nicht. Zumindest eben, wenn man nicht weiter darüber nachdenkt.
Dollases Bücher heißen „Geschmacksschule“ oder „Kulinarische Intelligenz“. Mit der „Neuen deutschen Küche“ will er eine kreative Küche fördern. „Das Problem ist“, sagt er „dass die kreative Küche im falschen Gehäuse groß geworden ist, nämlich im System der gehobenen Küche. Aber Luxuspublikum und kreative Küche passen oft nicht zusammen. Die Frage ist: Welches ist das Publikum für die kreative Küche? Das ist noch unklar.“
Klar ist für ihn: Wenn der Einzelne sich auf die Freiheit einlässt, Essen anders wahrzunehmen, eine bewusstere Esskultur zu entwickeln, dann wirkt sich das auch auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aus.
Ein ganz praktisches Beispiel ist der Hummer: „Der männliche Hummer schmeckt etwas speckiger, der weibliche etwas nussiger. Solche Unterscheidungen sind bei den schlappen Halbleichen nicht möglich, die in Holzwollekisten in Deutschland ankommen. Man sollte die guten Sachen dort essen, wo sie herkommen, und sie nicht in die Welt verfrachten. Dazu braucht man kein ökologisches Bewusstsein, dafür reicht das kulinarische völlig aus.“
Hat Dollase recht? Fehlt uns die kulinarische Intelligenz? Und würden wir zu einer besseren Gesellschaft, wenn wir uns darauf einließen, sie zu entwickeln? Oder sind Sie mit ihrem Standard-Schnitzel, mit Ihrem Lieblings-Tofu-Burger eigentlich ganz zufrieden?
Diskutieren Sie mit! Das Titelgespräch mit Jürgen Dollase lesen Sie in der taz.am wochenende vom 23./24. November.
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