Poesie auf Tiktok: „Ich bin eine Stimme dieser Zeit“
Clara Lösel ist Dichterin und Tiktok-Phänomen. Ihre Texte sind generisch und einfach, treffen dabei aber für viele in Krisenzeiten einen Nerv.
Wie belebt man etwas wieder, das kaum noch Beachtung findet? Tiktok – lautet die Antwort heutzutage. Das zeigt Clara Lösel, eine der bekanntesten jungen Lyrikerinnen im Land der Dichter und Denker. Die 26-jährige Gießenerin geht derzeit mit ihrer Lyrik und Poesie in den sozialen Medien viral. Auf Instagram hat sie fast 360.000 Follower, auf Tiktok 165.000 und über 6 Millionen Likes. Mit ihrem Buch „Wehe du gibst auf“, das auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste landete, befindet Lösel sich derzeit auf gleichnamiger Deutschlandtour.
„Es gibt viele Gründe aufzugeben“, sagt Lösel, als die taz sie am Telefon im Hotel in Bayreuth erreicht. Dort startet am Abend ihre Tour. Aber aufgeben sei keine Lösung. „Ich glaube, dass wir eine Hoffnungspflicht haben“, sagt sie. Und wie bleibt man hoffnungsvoll? „Hoffnung hat man nicht, Hoffnung macht man“, zitiert die Poetry-Slammerin aus ihrem Buch.
Genau so könnte es auf einem Wandtattoo oder Teebeutel stehen. Lösel begeistert damit. Sie trifft einen Nerv mit ihren Videos, in denen sie in direkter, einfacher Sprache über Einsamkeit, (Selbst-)Liebe, Schönheitsideale, Rechtsruck, Verlust geliebter Menschen und darüber, „wie man in dieser abgefuckten Zeit hoffnungsvoll sein kann“, spricht. Darin heißt es: „Ich bin mehr als meine Erfolge und mehr als meine Niederlagen. Ich bin mehr als Likes.“ Oder: „Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich dir deine Angst genommen.“
Ähnlich wie das Phänomen Taylor Swift, scheint Lösel einen Nerv zu treffen, weil sie universelle Erfahrungen in klarer und einfacher Sprache thematisiert. Ihre schonungslose Ehrlichkeit macht sie nahbar; viele können sich mit ihren Texten identifizieren. Ihren Erfolg erklärt die dreifache Literaturpreisträgerin selbst mit den Worten: „Verletzlichkeit und Ehrlichkeit“. Nur die wenigsten würden sich vor Hunderten Menschen eingestehen, dass sie verletzt, einsam oder „heartbroken“ seien – Lösel tut genau das.
Videos in wiederkehrendem Muster
Ihre Videos sind roh, unbearbeitet und folgen nicht den üblichen Tiktok-Tricks, wie schnelle Schnitte oder Tempoveränderungen. Sie folgen immer demselben Muster: ein Close-up von ihr, sie liest ihre Texte, wirkt nachdenklich, untermalt von bewegender Pianomusik. „Es lebt davon, dass man mir so tief in die Augen schauen kann und sieht, dass es mich auch bewegt und ich mich auch nicht verstecken kann“, erklärt Lösel. Die Scheu vor Social Media sei groß gewesen: „Ich struggle genauso wie alle anderen.“
Das verbindet. Fans schreiben ihr, dass ihre Worte ihnen beim Entzug, bei der Überwindung der Essstörung oder der Depressionen geholfen hätten. In den Kommentarspalten häufen sich Kommentare, wie: „Das fühle ich so sehr“ oder „Ich dachte, ich wäre die Einzige“. Einige lassen sich ihre Zeilen sogar tätowieren. In ihrem Onlineshop verkauft Lösel Tattoobögen mit Sätzen wie: „Liebe ist nie peinlich“, „Immer.gut.genug“ oder „produktiv ungleich wertvoll“.
Eigentlich wollte die Gießenerin Lehrerin für Deutsch und Spanisch werden, erzählt sie. Ende 2023 erlegte sich die damals 24-Jährige dann eine 100-tagige Tiktok-Challenge auf: Jeden Tag ein selbst geschriebenes Gedicht auf Tiktok posten. „Ich habe mein Leben lang geschrieben. Ich wollte einfach, dass die Leute meine Texte hören“, erzählt sie. Sie begann, die Videos für ihre 200 Follower zu posten, sie gingen schnell viral, Lösel bekam die ersten 100.000 Follower. Das Staatsexamen für Lehramt schließt sie ab und zieht für das Schreiben nach Berlin.
Sie bedauere, dass jüngere Generationen Lyrik oft als „uncool und alt“ abstempelten. Ihr Ziel sei es deshalb, Menschen für Lyrik zu begeistern, die normalerweise nicht lesen würden. Und es klappt: Viele würden ihr schreiben, dass sie erst durch sie den Zugang dazu gefunden hätten. „Ich glaube, dass viele gar nicht wissen, dass ich Lyrik und Poetry mache. Sie bleiben einfach an den Videos hängen und checken gar nicht sofort, dass es Poesie ist“, erzählt sie lachend. Eine große Hilfe sei aber auch Booktok, das junge Menschen motiviere, wieder zu lesen. Mit ihrem Buch war Lösel in diesem Jahr auf der Longlist von den Tiktok Book Awards für „Autorin des Jahres“.
Essen zwei Nazis einen Döner …
Darin spricht sie auch über die Pandemie, über Einsamkeit über die Unverbindlichkeit ihrer Generation. Fühlt sie sich wie eine Stimme der Gen-Z? „Nö. Ich spreche Themen an, die uns alle bewegen“, sagt Lösel. „Ich verstehe mich weniger als eine Stimme meiner Generation. Ich bin eine Stimme dieser Zeit.“
Ihr Publikum spiegelt diese Einschätzung wider: Lösel steht auf Bühnen für die Bundesregierung, diverse Stiftungen, die Deutsche Fußballliga oder die Jugendklimakonferenz. Gleichzeitig landet sie mit ihren Texten im Politik- oder Deutschunterricht. Zu ihrer Tour kämen manchmal drei Generationen, die sich alle von ihren Texten angesprochen fühlten, erzählt sie. Wie schafft man das? „Ich glaube, dass wir alle gar nicht so unterschiedlich sind. Ob jung oder alt, ob rechts oder links, vegan oder Fleischesser, Unternehmer*in oder Student*innen: „Wir haben alle Gefühle.“
Das Schubladendenken, das schnelle Verurteilen und die Lagerbildung machten ihr von all den globalen Schieflagen am meisten Sorge. Im Januar veröffentlichte Lösel ein Video auf Tiktok, in dem sie auf die die fehlende Akzeptanz von Vielfalt in rechtsextremen Kreisen anspielte. In dem Gedicht wollen zwei Nazis Döner essen gehen, tun es jedoch nicht, weil „Döner nicht deutsch ist“. Das Gedicht schließt mit den Worten: „Und so liegen sie dann traurig und hungrig später abends im Bett und denken sich, vielleicht wäre Vielfalt ja doch eigentlich ganz nett. Und so leisten Döner ihren Beitrag gegen Faschisten: Sie schmecken einfach zu gut – selbst Nationalsozialisten.“
Die Idee ist nicht besonders originär, seit Jahren sind auf Anti-AfD-Demos „Nazis essen heimlich Döner“-Plakate zu sehen. Und dennoch: Lösels Video geht viral. Sie erhält viel Zuspruch, doch sie wird auch zur Zielscheibe rechtsextremen Hasses. Auf die letzte Doppelseite ihres Buches hat sie Screenshots abgedruckt mit beleidigenden rechtsextremen Kommentaren: „Ich hoffe, du wirst von unseren Nazis verprügelt“, steht dort, oder: „Ich hoffe, du wirst von unseren Flüchtlingen vergewaltigt.“ Manchmal mache ihr das Angst, sagt Lösel. „Aber ich sehe nicht ein, mir den Mund von hassenden Menschen verbieten zu lassen.“
Clara Lösel tritt auf ihrer „Wehe du gibst auf“-Tour am 22. November im Punch Line Club in Berlin auf.
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