Podcast über Alltag in der Weimarer Zeit: Inflation, Krieg, Kälte
Der Podcast „Auf den Tag genau“ lässt einen tief in die Weimarer Republik eintauchen. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend und beängstigend.
Die Zeitungslandschaft der Weimarer Republik ist Legende. Fast 150 Blätter erschienen damals in der Reichshauptstadt Berlin, einige von ihnen sogar mehrmals täglich. Manche von ihnen waren hochprofessionelle Großunternehmen mit Dutzenden von Mitarbeitern; andere eher analoge Blogs, die komplett von ein oder zwei Redakteuren geschrieben wurden.
Die Zeitungsjungen und die überquellenden Kioske sind Teil der historischen Berliner Stadtfolklore; die Glossen, Rezensionen und Kommentare, die Autorinnen und Autoren wie Kurt Tucholsky, Joseph Roth oder Gabriele Tergit veröffentlichten, sind literarische Relikte eines verklärten kulturellen Lebens zwischen Romanischem Café, Zeitungsviertel, Haus Vaterland, Wintergarten und Berlin Alexanderplatz.
Wer wissen möchte, was in diesen legendären Zeitungen aus dieser legendären Zeit eigentlich genau stand, muss entweder ins Zeitungsarchiv der Berliner Stadtbücherei gehen oder die kleine Auswahl an Lokalzeitungen, die digitalisiert im Netz zu finden sind, einsehen. Oder er abonniert den Podcast „Auf den Tag genau“, den drei geschichtsinteressierte Freunde seit knapp drei Jahren produzieren und der „täglich eine Zeitungsnachricht aus der Welt vor hundert Jahren“ liefert.
Die „Welt vor hundert Jahren“ sieht dabei der Welt von heute oft erstaunlich ähnlich: Inflation, politische Krise, ökonomische Not, Demonstrationen, Kälte, Krieg. Im Oktober 1920 dachte der Berliner Magistrat darüber nach, die Weihnachtsferien zu verlängern, weil die Kohlen für die Berliner Schulen zu teuer waren. Zwar gab es noch keine Internettrolle und Online-Hetzer ohne Profilbild. Aber Kurt Tucholsky wurde schon zu dieser Zeit über das damals neue Medium des Telefons anonym beleidigt und bedroht.
Kettenbriefe mit rasender Geschwindigkeit
Virale Posts in den sozialen Medien waren zwar noch unbekannt. Dafür verbreiteten sich Kettenbriefe mit rasender Geschwindigkeit. Damals wie heute feierten in Italien rechtsradikale Politiker Überraschungserfolge, und die deutsche Presse erklärte ihren Lesern pflichtbewusst, was es mit diesem italienischen „Faschismus“ auf sich hatte – in Deutschland war diese Ideologie offenbar zu dieser Zeit noch unbekannt.
Damals wie heute ließ die deutsche Justiz bei rechten Straftätern Milde walten, wie beim Prozess gegen die Rathenau-Attentäter. Über die Funde deutscher Archäologen in Babylon wurde ohne falsche Scham wegen „Raubgutes“ berichtet. Und auch ohne omnipräsente Jogginganzüge wurde über den Untergang der deutschen Eleganz geklagt.
Eine literarische Nachwuchshoffnung namens Bert Brecht wurde vorgestellt und die neue Entwicklung des „akustischen Films“ angezeigt. Selbst über das vorherzusehende Ende der Rohstoffe und den drohenden Klimawandel war bereits 1920 in Berliner Zeitungen zu lesen. Und gegen die unkontrolliert steigenden Mieten sollte schon zu Beginn der 20er Jahren ein Mietendeckel helfen. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend – und manchmal auch beängstigend …
Besonders faszinierend sind aber gerade Berichte über Zeitphänomene, die lange untergegangen sind: Die Fernleihe der Berliner Bücherei per Briefpost im Ausland, das Hunderennen im Grunewald, die Vorküche für die Speisewagen der Bahn oder die Einführung der Verkehrsampel lassen uns an dem Alltag einer Epoche teilnehmen, die heute oft so nostalgisch verbrämt gezeigt wird wie in der Krimi-Fernsehserie „Babylon Berlin“.
„Als wir angefangen haben, haben wir uns gar nicht richtig klargemacht, dass wir da diese Zeitepoche behandeln, um die so ein Hype existiert“, sagt Fabian Goppelsröder, einer der drei Gründer des Podcasts, der die Sendung auch moderiert. Zusammen mit Robert Sollich und Jan Fusek wollte man einen Geschichts-Podcast machen, und die erste Sendung war eben am 1. Januar 2020.
1.000 Folgen trotz schlichter Arbeitsbedingungen
Eine Vorauswahl an Texten liefert seither Sollich, der bei der Arbeit an seiner Dissertation im Zeitungsarchiv der Berliner Landesbibliothek recherchierte und für die Sendung die Ausgaben von über zwanzig Zeitungen pro Tag durchsieht. In mehreren Redaktionssitzungen pro Monat wird der tägliche Text ausgewählt, dieser an ein kleines Team von Mitarbeitern weitergeleitet, die die Originaltexte, die in Frakturschrift veröffentlicht wurden, abtippen, damit zwei hauptberufliche Schauspieler diese einlesen können.
Aus diesen Dateien montiert Jan Fusek dann den täglichen Podcast, der um die zehn Minuten lang ist. Produziert wird ausschließlich zu Hause am eigenen Laptop.
Obwohl „Auf den Tag genau“ auf allen gängigen Streaming-Plattformen zu finden ist, zahlen Spotify oder Apple den Machern keinen Cent für diesen „content“. Eine geringe Einnahmequelle sind Spenden der Zuhörer, „aber das reicht gerade für neues Equipment oder um mal zusammen essen zu gehen“, sagt Goppelsröder. Trotz der schlichten Arbeitsbedingungen sind inzwischen mehr als 1.000 Folgen entstanden. Der Podcast hat 50.000 Abonnenten und mehr als 1.000 tägliche Zuhörer, deren Zahl weiter steigt.
„Auf den Tag genau“, über alle Podcast-Anbieter sowie Streamingdienste wie Spotify, Deezer und Apple. www.aufdentaggenau.de
Obwohl sie dafür unbezahlt eine Arbeit verrichten, für die man bei einem traditionellen Radiosender eine mehrköpfige Redaktion hätte, ist Goppelsröder immer noch von dem Projekt begeistert: „Wir hatten zwar am Anfang den Arbeitsaufwand vollkommen unterschätzt. Aber ich bin immer noch froh, dass uns diese Möglichkeit zur Verfügung steht. Vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen.“ Ursprünglich wäre man schon zufrieden gewesen, wenn man hundert Folgen fertigbekommen hätte. „Aber erst über die Zeit hinweg entsteht ein Mosaik dieser Epoche“, das ihn immer noch fasziniert, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau