Plädoyers im Prozess zum Halle-Anschlag: Kampf gegen Unmenschlichkeit
Im Prozess zum Halle-Anschlag fordern die OpferanwältInnen die Höchststrafe für den Angeklagten – und kritisieren die Anklage.
Mandy S. schließt die Augen, tupft sich Tränen weg. Sie ist diese Mutter. Ihr Sohn Kevin wurde am 9. Oktober 2019 in Halle ermordet – von Stephan B. Der Rechtsextremist hatte erfolglos versucht, die Synagoge in der Stadt zu stürmen. Er scheiterte, erschoss aber die Passantin Jana L., und später im „Kiezdöner“ Kevin. Einen 20-Jährigen, geistig behindert, mit gerade begonnener Malerlehre, enthusiastischer Fan des Halleschen FC.
Es ist auch Erkan Görgülü, der Anwalt von Kevins Vater, der Stephan B. danach direkt angeht. Der hört zu, ungerüht. Kevin habe in seinem Leben immer gekämpft, sagt Görgülü. Und er, Stephan B.? Behaupte einen Kampf gegen eine vermeintliche Verdrängung der Weißen durch Juden und Migranten. Görgülü schüttelt den Kopf. B. habe doch nur Zuhause bei seiner Mutter gesessen und nichts getan. „Woraus wurden Sie gedrängt? Aus Ihrem Kinderzimmer?“ Und was für ein Kampf war das? Gegen eine arglose Passantin und einen jungen Mann, der sich im Kiezdöner hinter einem Kühlschrank versteckte und um sein Leben flehte? „Das ist kein Kampf, das ist feige.“
Dann schließt Görgülü mit den letzten Worten von Kevin S. Sie sind auf dem Tatvideo dokumentiert, das der Angeklagte selbst filmte. „Nein, bitte nicht, bitte nicht.“ Die Worte verhallen im stillen Saal. Und Mandy S. kann nicht mehr, sie weint.
Ein „fanatisch-ideologischer Einzeltäter“
Die Worte fallen am Dienstag im Prozess zum Terroranschlag in Halle. 21 Tage wurde hier seit Juli verhandelt, nun nähert sich der Prozess dem Ende, die Opferanwälte halten ihre Plädoyers. Bereits zuvor hatten die Ankläger der Bundesanwaltschaft, die Höchststrafe für Stephan B. gefordert: lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der 28-Jährige habe einen der „widerwärtigsten antisemitischen Akte seit dem Zweiten Weltkrieg“ begangen. Er sei ein „fanatisch-ideologischer Einzeltäter“, der sich aber als Teil eines rechtsextremen Netzwerks verstanden habe.
Der Strafforderung schließen sich die Opferanwälte an, verweisen auf die Reuelosigkeit des Angeklagten. „Dieser Mann ist gefährlich. Er war es, er ist es“, sagt Görgülü. Das Gericht müsse dafür sorgen, dass Stephan B. „nie wieder freikommt“.
Die AnwältInnen fächern aber auch noch einmal die Facetten der Tat auf. Sie verweisen auf das gesellschaftliche Umfeld, in dem der Attentäter handelte, auf die Vorläuferdebatten von Sarrazin bis zur AfD, die Rassismus gegen Migranten salonfähig machten. Auf B.s Familie, die wegschaute. Auf seine rechtsextreme Ideologie, die eine „weiße“ Überlegenheit predigt und Hass säht. Auf seine Imageboard-Community, in der Rechtsterror wie in El Paso oder Christchurch glorifiziert und zu weiteren Taten angestachelt wird. Und die AnwältInnen appellieren, weitere Taten zu verhindern. Man könne nicht mehr den Anfängen wehren, sagt Kristin Pietrzyk. „Wir sind mitten drin.“
Die AnwältInnen kritisieren auch erneut, wie unsensibel die Polizisten am Tattag mit den Opfern umgingen und wie wenig die Ermittler das Online-Netzwerk des Attentäters ausforschten. Der Bundesanwaltschaft werfen einige vor, dass sie es nicht als versuchten Mord wertete, dass Stephan B. auf den Kiezdöner-Betreiber Ismet Tekin schoss und versuchte, den Passanten Aftax I., einen Somalier, mit seinem Auto zu erfassen. „Sie spielen mit dieser Deutung dem Angeklagten in die Hände“, mahnt Onur Özata.
Stephan B. grinst beim Zuhören
Auch Ismet Tekin wendet sich noch einmal selbst an die Bundesanwälte. „Bei allem Respekt, ich akzeptiere nicht, was Sie gesagt haben.“ Warum habe er bis heute Alpträume und Schmerzen? Natürlich habe Stephan B. ihn töten wollen. „Sonst wäre ich doch hingegangen und hätte ihn gestoppt.“
Anwältin Antonia von der Behrens verliest Erklärungen von zwei Betroffenen. Diese beklagen einen bis heute andauernden Antisemitismus in ihrem Alltag – und das Wegschauen von Umstehenden. „Als Kind habe ich mir nie vorgestellt, ich müsse als Jüdin irgendwann einmal um mein Leben fürchten“, bekundet eine Betroffene. „Ich dachte, dass gehört der Vergangenheit an. Was ich nicht verstanden habe, ist, dass die Vergangenheit ein Teil unserer Gegenwart ist.“
Die AnwältInnen verweisen aber auch auf die starke Reaktion der Betroffenen nach dem Anschlag. Auf die Gläubigen aus der Synagoge, die vor Gericht bekräftigen, dass sie ihren Glauben weiterleben werden, jetzt erst recht. Die dem Angeklagten sagten, er habe sich mit den falschen Leuten angelegt. Und auf die Engagierten, die auch an diesem Tag wieder vor dem Gericht eine Kundgebung abhielten. Von einer „schallenden Ohrfeige“ spricht Anwalt Görgülü. „Die Gesellschaft hat Ihnen die Stirn geboten.“
Anwalt Mark Lupschitz, der mehrere Gläubige aus der Synagoge vertritt, zitiert das jüdische Partisanenlied „Mir zaynen do“. Dieses „Wir sind da“ sei auch die Botschaft seiner Mandanten. „Wir lassen uns unsere Lebensweise nicht nehmen. Und wir sind viele.“ Seine Mandanten seien keine Opfer, sagt Lupschitz. Denn sie hätten den Kampf gegen Unmenschlichkeit aufgenommen. Mehrere AnwältInnen dankten dem Gericht, dass es der Sicht der Betroffenen breiten Raum gelassen habe.
Stephan B. verfolgt all dies zurückgelehnt, teils grinsend. Im Prozess hatte er die Taten eingeräumt und beklagt, dass er nicht mehr Menschen in der Synagoge töten konnte. Auch er wird demnächst noch ein Schlusswort sprechen dürfen und es lässt nichts Gutes erwarten. Am 21. Dezember will das Gericht dann sein Urteil fällen.
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