Plädoyer für langsames Reisen: Warum ich ohne Flugzeug nach Papua-Neuguinea reise
Gianluca Grimalda wurde als der Klimaforscher bekannt, der seinen Job verlor, weil er nicht fliegen wollte. Jetzt will er in Ozeanien weiterforschen.

Derzeit habe ich keinen Forschungsvertrag, aber im Januar werde ich eine neue Stelle an der Masaryk-Universität in der Tschechischen Republik antreten. Eigentlich hätte dieser Vertrag schon dieses Jahr beginnen können. Ich habe mich jedoch entschieden, ihn zu verschieben, damit ich mit geringeren Auswirkungen auf die Umwelt reisen kann, ohne die Reisezeit berücksichtigen zu müssen.
Im Oktober 2023 entließ das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) den Verhaltensökonomen Gianluca Grimalda. Er war nicht zum gesetzten Zeitpunkt von einer Dienstreise wiedergekommen. Um die Frist einzuhalten, hätte er das Flugzeug nehmen müssen. Das aber verweigerte Grimalda mit Verweis auf die Klimakrise.
Zuvor hatte er sieben Monate in einer autonomen Provinz von Papua-Neuguinea geforscht. Dabei war es zu Verzögerungen gekommen, woraufhin ihm sein Institut die Frist für die Rückreise setzte. Er bevorzugte dennoch die klimafreundliche Rückkehr mit Bus, Bahn oder Schiff. Die 28.000 Kilometer lange Reise durch 16 Länder dauerte über zwei Monate. Ein Arbeitsgericht bestätigte im vergangenen Jahr, dass die Kündigung rechtmäßig sei.
Mit einer Kolumnenserie schilderte Grimalda in der taz seine teilweise abenteuerliche Fahrt. Aus seinen Smartphone-Videos machte der Regisseur Paolo Casalis später die Doku „Der Wissenschaftler“.
Glücklicherweise habe ich von verschiedenen Quellen Fördermittel erhalten, um meine Forschung in Bougainville, der äußersten Provinz Papua-Neuguineas, abzuschließen. Ich möchte zwei Projekte abschließen, die ich in den vergangenen Jahren begonnen habe.
Bei einem handelt es sich um eine gemeinsame Initiative von 50 Sozialwissenschaftler*innen, die 50 verschiedene indigene Gesellschaften untersuchen. Das Projekt untersucht die wirtschaftliche Mobilität – also Bewegungen von Menschen innerhalb der Gesellschaft, die mit Veränderungen in Einkommen oder Vermögen verbunden sind – in Gemeinschaften, die von den globalen Märkten abgekoppelt sind. Jetzt geht es darum zu beobachten, wie sich Vermögensungleichheiten und soziale Strukturen über einen Zeitraum von fünf Jahren entwickelt haben.
Muss man so weit von zu Hause weg forschen?
Das zweite Projekt untersucht, wie Menschen in Situationen mit kollektiven Risiken wie dem Klimawandel reagieren. Ich untersuche individuelles Verhalten in sozialen Interaktionen, indem ich in kleinem Maßstab die Auswirkungen von Klimarisiken simuliere.
Viele Menschen fragen sich, ob es wirklich notwendig ist, diese Themen fast 30.000 Kilometer von zu Hause entfernt zu studieren. Ich glaube, dass es notwendig ist, weshalb ich versuche, mehrere Projekte gleichzeitig zu entwickeln.
Erstens sind diese Bevölkerungsgruppen bereits von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Alle Küstengemeinden in Bougainville mussten aufgrund des steigenden Meeresspiegels ins Landesinnere umziehen. Auch die Nahrungsmittelknappheit nimmt zu, wahrscheinlich zusammenhängend mit steigenden Temperaturen und anhaltenden Dürren.
Die ersten mutmaßlichen „Klimaflüchtlinge“ kommen aus dieser Region. Es ist unerlässlich, ihr Verhalten angesichts schwerer Katastrophen zu untersuchen.
Zweitens ermöglicht uns die Tatsache, dass diese Gesellschaften in erster Linie auf Selbstversorgung angewiesen sind und sich gerade in die Marktwirtschaft integrieren, die Auswirkungen der Marktwirtschaft im Laufe ihrer Entwicklung zu untersuchen.
Während ich mich auf den Weg mache, hat sich die Frage, die mir viele Menschen in den letzten zwei Jahren gestellt haben, nicht geändert: Lohnt es sich wirklich, vier Monate seiner Zeit mit langsamen Reisen zu verbringen, verglichen mit weniger als drei Tagen im Flugzeug, wenn man bedenkt, dass die eingesparten Emissionen denen entsprechen, die China in einer Drittelsekunde ausstößt?
Viele Mitaktivist*innen sind entmutigt. Nach einem Jahrzehnt intensiver Mobilisierung sind wir immer noch auf dem Weg zu einem Temperaturanstieg von 2,7 Grad bis 2100, was wahrscheinlich zum Zusammenbruch mehrerer wichtiger Ökosysteme führen würde. Die Massaker in Gaza, der Ukraine und anderswo unterstreichen die Schwäche der globalen Governance.
Die Gesellschaften werden ums Überleben kämpfen
Trotzdem bin ich entschlossen, meine kohlenstoffarmen Reisen fortzusetzen. Ich habe das Gefühl, dass ich mindestens drei Arten von Verpflichtung habe. Die erste ergibt sich aus meiner Kohlenstoffschuld. Als Mittvierziger, der in Europa lebt, habe ich sicherlich meinen fairen Anteil an Kohlenstoffemissionen überschritten, der mit der Einhaltung „sicherer“ Grenzen für unseren Planeten vereinbar wäre.
Als Forscher, der die Möglichkeit hatte, Klimawissenschaften zu studieren, möchte ich in Übereinstimmung mit dem handeln, was ich gelernt habe. Wenn Ökosysteme zusammenbrechen, werden die Temperaturen in vielen Teilen der Welt auf unerträgliche Werte steigen, extreme Wetterereignisse werden an Häufigkeit und Intensität zunehmen und die Nahrungsmittelversorgung wird dramatisch zurückgehen.
Die Gesellschaften werden unter diesen extremen Bedingungen ums Überleben kämpfen, wie es bereits in der Vergangenheit der Fall war. Ich halte dieses Schicksal nicht für unvermeidlich und möchte alles in meiner Macht Stehende tun, um diese düstere Zukunft zu vermeiden.
Das zweite ist eine Verpflichtung des Wissens. Ich habe allen Gemeinden, die ich in Bougainville besucht habe, versprochen, dass ich zurückkehren werde, um die Ergebnisse meiner Forschung mit ihnen zu teilen. Dieser Wissenstransfer ist für die Gemeinden wichtig. Meine Forschung liefert einen Überblick darüber, wie bereitwillig Menschen sich gegenseitig helfen, wie die Geschlechterverhältnisse funktionieren und wie groß die Bereitschaft ist, riskante Verhaltensweisen einzugehen.
Darüber hinaus finden viele Gemeinden meine Präsentationen über die Ursachen, Auswirkungen und Lösungen des Klimawandels aufschlussreich. Sie wollen lernen, und ich habe es mir zur persönlichen Aufgabe gemacht, ihnen dabei zu helfen.
Ich habe drittens das Gefühl, dass ich eine Verpflichtung zur Repräsentation habe. Viele Menschen haben mich animiert, auch in ihrem Namen weiterhin kohlenstoffarm zu reisen. Sie sagen mir, dass sie nicht die Zeit oder vielleicht auch nicht den Mut hätten, entsprechend der Tatsache zu handeln, dass die Welt brennt. Ich weiß, dass mein Handeln eine verstärkende Wirkung haben kann und vielen anderen Menschen Mut gibt.
Langsames Reisen ist nicht nur fürs Klima gut
Klimaschutz ist nicht mein einziger Grund, langsam zu reisen. Ich möchte auch so reisen wie die stille Mehrheit dieses Planeten, wie die 80 Prozent der Weltbevölkerung, die sich keine Flugreisen leisten können.
Ein Papua würde sagen, dass Reisen mit dem Flugzeug bedeutet, über Dinge hinwegzufliegen, anstatt sie wirklich zu sehen. Und auch wenn meine Sicht oft getrübt ist, glaube ich fest daran, dass ich durch langsames Reisen einen „Zoom“ auf die Menschen und die globale Gesellschaft bekomme. Eine der heuchlerischsten Aussagen, die ich in politischen Kreisen immer wieder gehört hab, war, dass das Ziel der „globalen Governance“ darin bestehe, „niemanden zurückzulassen“.
Wenn man dann nach Papua-Neuguinea reist und sieht, dass die wenigen vorhandenen Krankenhäuser nicht einmal das Geld haben, um Paracetamol zu bezahlen, wird einem klar, dass es eine Welt gibt, die sich sehr von den Memoranden der politischen Entscheidungsträger unterscheidet. Es ist diese Welt, die ich mit eigenen Augen sehen möchte.
Während meiner langsamen Reisen habe ich immer jemanden gefunden, der mich wie ein Familienmitglied behandelt hat. Ich habe mich nie wie ein Fremder gefühlt. In den Dutzenden von Menschen, die ich traf, entdeckte ich ein echtes Gefühl der grenzüberschreitenden Menschlichkeit. Sie taten, was sie konnten, um mir zu helfen – boten mir vielleicht ein Abendessen oder zahlten mir eine Busfahrkarte. Dieses Gefühl der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit ist vielleicht das Einzige, was mir den Glauben gibt, dass wir es vielleicht und entgegen aller Widrigkeiten schaffen werden, das schwerwiegendste Kooperationsproblem anzugehen, mit dem wir jemals konfrontiert waren, nämlich den Klimawandel.
Was mich ebenfalls motiviert, ist das Bewusstsein, dass sich soziale Strukturen ständig weiterentwickeln und wie Klimaökosysteme Kipppunkte haben. Selbst soziale Strukturen, die praktisch während der gesamten Menschheitsgeschichte stabil waren wie Sklaverei und das auf Männer beschränkte Wahlrecht in politischen Systemen, sind innerhalb weniger Jahrzehnte zusammengebrochen – ein Wimpernschlag im Vergleich zu den Hunderttausenden von Jahren, die sie Bestand hatten.
Möglicherweise stehen wir kurz vor einem weiteren sozialen Wendepunkt und sind uns dessen noch nicht bewusst. Tatsächlich können wir laut einer Studie, die kürzlich auf der Konferenz zu globalen Wendepunkten an der Universität Exeter vorgestellt wurde, bereits beobachten, dass sich erneuerbare Energiesysteme weltweit so schnell verbreitet haben und die Kosten so stark gesunken sind, dass wir diese Entwicklung als unumkehrbar betrachten können.
Selbst wenn all dies nur eine Illusion wäre, würde ich mein Verhalten nicht ändern. Ich schließe mich den (wahrscheinlich fälschlicherweise) Martin Luther King zugeschriebenen Worten an: „Selbst wenn ich wüsste, dass die Welt morgen untergeht, würde ich heute noch meinen Apfelbaum pflanzen“.
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